Anthrax
erwiderte Jack.
Stan Thornton war der Leiter des städtischen Amts für die Durchführung von Notstandsmaßnahmen. Auf einer der donnerstagnachmittäglichen Gerichtsmedizinerkonferenzen, die extra zur Förderung der Kooperation zwischen den Behörden organisiert wurden, hatte er eine versierte Rede gehalten. Er hatte über die Herausforderungen der Gerichtsmedizin im Falle einer durch Massenvernichtungswaffen verursachten Katastrophe referiert. Jack hatte die anschließende Diskussion äußerst beunruhigend gefunden. Vor dem Vortrag hatte er sich noch nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht, wie man logistisch mit einer großen Anzahl von Opfern fertig werden sollte. Allein die Aufgabe, Tausende und Abertausende von Toten identifizieren zu müssen, würde unvorstellbare Probleme aufwerfen – ganz zu schweigen von dem Dilemma, was mit den Leichen passieren sollte.
»Was soll ich ihm sagen?« fragte Jack.
»Erzählen Sie ihm das gleiche, was Sie mir berichtet haben«, riet Calvin ihm. »In Anbetracht dessen, daß der Verstorbene als einziger und dann auch noch bei der Ausübung seines Berufes dem Erreger ausgesetzt war, handelt es sich eher um einen Höflichkeitsanruf. Aber da Thornton in seiner Diskussionsrunde über Bioterrorismus auch das Thema Anthrax behandelt hat, will er sicher zumindest über den Zwischenfall informiert werden.«
»Und warum soll ausgerechnet ich ihn anrufen?« beklagte sich Jack. »Höflichkeitsgequatsche mit Amtskollegen ist nicht gerade meine Stärke.«
»Dann müssen Sie es eben lernen«, meinte Calvin ungerührt. »Außerdem geht es um Ihren Fall. Jetzt sehen Sie zu, daß Sie rauskommen, damit ich endlich weiterarbeiten kann.« Jack verließ den Verwaltungsbereich, machte einen kurzen Zwischenstop im zweiten Stock, um sich aus einem der Verkaufsautomaten ein Sandwich zu ziehen, und fuhr dann wieder hinauf in den vierten Stock. Eigentlich wollte er direkt in sein Büro zurückkehren, doch er konnte es nicht lassen und schaute noch einmal bei Laurie hinein. Vielleicht schaffte er es ja doch noch, ihr das ›große Geheimnis‹ zu entlocken. Leider war sie nicht da. Wie Dr. Riva Mehta, die Kollegin, mit der sie sich das Büro teilte, ihm berichtete, hatte Laurie sich mit dem Detective und dem FBI-Beamten in Binghams Büro zurückgezogen.
Unzufrieden mit sich selbst und dem ganzen Tag, ließ Jack sich schließlich in seinen Schreibtischstuhl fallen. »Du machst ja immer noch ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter«, stellte Chet fest. »Hoffentlich hast du unseren stellvertretenden Boß nicht wieder provoziert.« Jack und Calvin stritten sich des öfteren. Während Calvin ein Verfechter strikter Vorschriften und Regelungen war, betrachtete Jack Vorschriften allenfalls als eine Art Leitschnur. Er war der festen Überzeugung, daß intelligentes und instinktives Handeln zweckdienlicher war als bürokratische Erlasse. »Was für ein beschissener Tag!« entfuhr es Jack, ohne auf Chets Bemerkung einzugehen. Er kratzte sich am Kopf, knackte mit den Fingerknöcheln und überlegte, welche der unangenehmen Aufgaben, die Calvin ihm übertragen hatte, er zuerst in Angriff nehmen sollte. Während er das Telefonbuch aufschlug, um die Nummer von Clint Abelard zu suchen, ging ihm ein niederschmetternder Gedanke durch den Kopf. Vielleicht hatte Laurie ja ein Stellenangebot aus Detroit oder gar von irgendwo an der Westküste erhalten. Das machte Sinn. Falls sie umzog, würde sie ihn und Lou mit Sicherheit informieren wollen; und da sie bei einem Stellenwechsel zweifelsohne einen Karrieresprung machte, konnte dies die Erklärung für ihre Überdrehtheit sein. Jack starrte einen Augenblick lang ins Leere und versuchte sich auszumalen, wie sein Leben im Big Apple ohne Laurie aussehen würde. Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen, aber der Gedanke verdüsterte sein Gemüt. »He, ich habe ganz vergessen, dir von der Ausstellung im Metropolitan Museum zu erzählen«, meldete Chet sich plötzlich noch einmal zu Wort. »Dort läuft zur Zeit eine Claude-Monet-Exposition, die Colleen unbedingt sehen will. Wir haben Tickets für Donnerstag abend.« Chet war mit einigen Unterbrechungen seit drei Jahren mit Colleen Anderson liiert. Sie arbeitete als Art director bei Willow and Heath, einer Werbeagentur an der Madison Avenue. Jack kannte sowohl Colleen als auch Willow and Heath; das erste Mal hatte er mit ihr und der Agentur zu tun gehabt, als er im Zusammenhang mit dem Infektionsfall recherchiert
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