Anthrax
Trauer um den Tod seiner Mutter und das schreckliche Gefühl, für ihren Tod mitverantwortlich zu sein, noch nicht ausgereicht hätten, wurde er als das jüngste in die Katastrophe verwickelte Belegschaftsmitglied zu allem Übel auch noch zum Sündenbock gemacht. Die nachfolgende offizielle Untersuchung ergab zwar, daß die Leute vom Wartungsdienst der Nachtschicht und deren Schichtaufseher die Hauptverantwortung trugen, weil sie weder die verstopften Filter durch neue ersetzt noch ordnungsgemäß den Ausbau der alten Filter vermerkt hatten; doch schob man trotz alledem den Hauptteil der Schuld Yuri in die Schuhe. Theoretisch hätte er vor dem Anfahren der Anlagen überprüfen müssen, ob die Filter auch ordnungsgemäß an Ort und Stelle waren; doch da sie nur alle paar Monate ausgetauscht wurden, machte sich niemand die Mühe, diesen Check tatsächlich allmorgendlich vorzunehmen. Im übrigen hatte es der Schichtaufseher versäumt, Yuri während dessen Einarbeitung zu unterweisen, daß er das Vorhandensein der Filter täglich zu kontrollieren hatte. Da es bei der Katastrophe um die nationale Sicherheit ging und absolute Geheimhaltung erforderlich war, sperrte man Yuri für eine Weile statt in ein normales Gefängnis in ein Militärgefängnis und versetzte ihn dann ins ferne Sibirien. Dort landete er wieder in einer Anlage von Biopreparat. Sie firmierte unter dem Namen Vector und befand sich in Nowosibirsk. Vector diente vor allem der Herstellung von waffentauglichen Viren, unter anderem des Pockenvirus; doch Yuri landete in einem kleinen Team, das sich mit der Verbesserung der Wirksamkeit von kampftauglichem Anthrax und Botulinustoxin beschäftigte.
Seinen Bruder Yegor hatte er nie wiedergesehen. Zum Glück hatte Yegor sich nicht mit den freigesetzten Anthraxerregern infiziert – doch er hatte Yuri weder im Militärgefängnis noch in Sibirien besuchen dürfen. Nach seinem Schulabschluß war er im Juni zum Militärdienst eingezogen und im Dezember 1979 direkt zu Beginn der Invasion nach Afghanistan geschickt worden. Dort war er als einer der ersten gefallen.
Yuri seufzte. Er dachte nicht gerne an die Schicksalsschläge seiner traurigen Vergangenheit. Sie machten ihm Angst und verschafften ihm immer das Gefühl, die Kontrolle über sich zu verlieren. In seinem Taxi sitzend, inspizierte er durch die Windschutzscheibe und einen Blick in den Rück-und die beiden Seitenspiegel noch einmal aufmerksam die Umgebung. Es waren ein paar Fußgänger unterwegs, die ihn aber nicht beachteten. Er genehmigte sich noch einen schnellen Schluck aus seinem Flachmann und verstaute das mittlerweile leere Fläschchen unter dem Sitz. Wieder einmal war ihm bereits am Nachmittag der Wodka ausgegangen. Immer noch innerlich aufgewühlt, öffnete er die Tür und stieg aus, ohne sich jedoch von seinem Taxi zu entfernen. Vom täglichen stundenlangen Sitzen hatte er chronische Rückenschmerzen, die er durch ein paar Streck-und Dehnübungen zu lindern versuchte. Er atmete ein paarmal tief durch. Als er sich etwas besser fühlte, stieg er zurück ins Auto. Er wollte gerade das Off-Duty-Schild wieder ausschalten, als ihm einfiel, daß er sich ganz in der Nähe der Walker Street und dem Sitz der Corinthian Rug Company befand. Bestimmt würde ihm ein bißchen Abwechslung guttun; so beschloß er, dem Teppichhandel einen Besuch abzustatten. Wenn er positive Nachrichten über den Inhaber in Erfahrung brachte, würde es ihm bestimmt deutlich bessergehen. Es war bereits halb vier, und wie immer, wenn die Rushhour näher rückte, wurde der Verkehr zusehends dichter. Auf dem Broadway kam er nur im Schneckentempo voran; vor allem die Canal Street und deren Umgebung waren vollkommen verstopft. Er mußte sich stark zusammenreißen, um nicht die Geduld zu verlieren. Schließlich bog er in die relativ ruhige Walker Street ein.
Er näherte sich der Corinthian Rug Company in der festen Erwartung, das Geschäft auch diesmal geschlossen vorzufinden. Dies wollte er als weiteren Beweis dafür nehmen, daß Jason Papparis sich infiziert hatte und entweder bereits tot war oder mit dem Tode kämpfte. Yuri überlegte gerade, ob er es ein weiteres Mal wagen sollte, in dem Briefmarkenladen nachzufragen; da stellte er zu seinem Entsetzen fest, daß die Eingangstür der Corinthian Rug Company weit offenstand und drinnen Licht brannte.
Entnervt trat er auf die Bremse und fuhr im Schrittempo an dem Geschäft vorbei, um einen Blick ins Innere zu erhaschen. Was er sah, brachte
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