Anthropofiction
dem »Zuhörer« einfach alle seine Sorgen und Ängste, wobei er mit den frühesten Schwierigkeiten beginnt, an die er sich erinnert. Das von den Renakirema bei diesen Austreibungs-Sitzungen entwickelte Erinnerungsvermögen ist wahrhaft bemerkenswert. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn ein Patient die Zurückweisung beklagt, die er als Baby bei der Entwöhnung spürte, und ein paar Individuen erkennen, daß ihre Leiden auf traumatische Nachwirkungen ihrer eigenen Geburt zurückzuführen sind.
Zum Abschluß müssen gewisse Praktiken Erwähnung finden, die ihren Ursprung in der Ästhetik der Eingeborenen haben, die aber von der beherrschenden Abneigung gegen den natürlichen Körper und seine Funktionen abhängen. Es gibt rituelle Fastenperioden, die fette Leute dünn machen sollen und zeremonielle Feste, die dünne Leute fett machen sollen. Wieder andere Riten dienen dazu, die Brüste der Frauen größer zu machen, wenn sie klein sind, und kleiner, wenn sie groß sind. Generelle Unzufriedenheit mit der Brustform symbolisiert sich in der Tatsache, daß die ideale Form praktisch außerhalb der Reichweite menschlicher Variationsbreite liegt. Ein paar Frauen, die mit einer fast ultramatrimonischen Entwicklung ausgestattet sind, sind soweit idolisiert, daß sie sich einen ordentlichen Lebensunterhalt verdienen, indem sie einfach von Dorf zu Dorf ziehen und den Eingeborenen für ein Handgeld erlauben, sie anzustarren.
Berücksichtigt wurde bereits die Tatsache, daß Ausscheidungshandlungen ritualisiert, routinisiert und in die Heimlichkeit verbannt sind. Natürliche Fortpflanzungsprozesse sind ähnlich verzerrt. Geschlechtsverkehr ist als Gesprächsthema tabu, und als Handlung schematisiert. Es werden Anstrengungen unternommen, die Schwangerschaft zu vermeiden, entweder durch magische Mittel, oder durch Begrenzung des Geschlechtsverkehrs auf bestimmte Mondphasen. Empfängnis ist zur Zeit sehr selten. Wenn sie schwanger sind kleiden die Frauen sich so, als ob sie ihren Zustand verbergen wollten. Die Niederkunft findet im geheimen statt, ohne den Beistand von Freunden und Verwandten; und die Mehrzahl der Frauen stillt ihre Kleinkinder nicht.
Unser Überblick über die Renakirema hat sie gewiß als ein magiebesessenes Volk gezeigt. Es ist schwer zu verstehen, wie sie es geschafft haben, unter dieser Bürde, die sie sich selbst auferlegt haben, so lange zu existieren. Aber selbst so exotische Gebräuche nehmen eine wirkliche Bedeutung an, wenn man sie mit soviel Einsicht betrachtet, wie sie Malinowski erwies, als er dies schrieb (1948:70).
»Von fern und oben schauend, von unseren hohen Plätzen der Sicherheit in der entwickelten Zivilisation, ist es leicht, alle Roheit und Unzulänglichkeit des Zaubers zu erkennen. Aber ohne seine Macht und Führung hätte der frühe Mensch seine praktischen Schwierigkeiten nicht so gemeistert, wie er es getan hat, hätte der Mensch die höheren Ebenen der Zivilisation nicht erreichen können.«
Zitierte Autoren:
Linton, Ralph, 1963 The Study of Man. New York, D. Appleton-Century Co.
Malinowski, Bronislaw, 1948 Magic, Science and Re ligion. Glencoe, The Free Press.
Murdock, George P. 1949 Social Structure. New York, The Macmillan Co.
Kit Reed
Das Warten
Durch eine mit Abziehbildern aller Touristen-Attraktionen zwischen Luray Caverns und Silver Springs beklebte Windschutzscheibe las Miriam das Ortsschild.
»Babylon in Georgia, Mama. Können wir nicht anhalten?«
»Aber sicher doch, Süßes. Wie du willst.«
Die kleine rundliche Frau nahm ihre Sonnenbrille ab.
»Schließlich ist es deine Reise.«
»Ich weiß, Mama, ich weiß! Alles was ich will ist ein Eishörnchen – keine Weltreise!«
»Werde nicht frech!«
Nach Miriams Bildungsreise durch den Süden waren sie nun wieder auf dem Heimweg. (Mama hatte die Reise schon vor Jahren geplant, aber sie um zwei Mo nate vorverlegt – mitten in den Sommer – und sie wa ren gleich nach Miriams Hochschulabschluß losgefahren. »Mr. Margulies sagte, ich könnte den ganzen Sommer haben, weil ich mit ihm und Mr. Kent so lange zusammen war«, hatte sie gesagt. »Ist es nicht wundervoll, gemeinsam zu verreisen, Liebling?« Miriam hatte geseufzt, als sie an ihre Clique dachte, die sie in Drugstores, in Kinos und im Park, wo sie schmelzendes Eis aßen, den ganzen Sommer lang traf. – »Ja«, hatte sie gesagt)
Nun hatten sie irgendwie bereits dreihundert Meilen hinter sich gebracht. Sie waren meilenweit über Georgias staubige
Weitere Kostenlose Bücher