Anthropofiction
den Medizinmännern verstanden und von den Gräserkundigen, die, für eine weitere Gabe, das gewünschte Zaubermittel beschaffen.
Das Zaubermittel wird nicht beseitigt, nachdem es seinem Zweck gedient hat, sondern es wird in dem Zaubermittelkasten im Haushaltsschrein untergebracht. Da diese zauberkräftigen Stoffe speziell auf bestimmte Krankheiten abgestimmt sind, und es gibt zahllose wirkliche oder eingebildete Krankheiten bei diesen Leuten, ist die Zaubertruhe gewöhnlich bis zum Bersten voll. Die zauberkräftigen Päckchen sind so zahlreich, daß die Leute vergessen, was ihre Bestimmung war, und sich fürchten, sie wieder zu gebrauchen. Die Eingeborenen sind in dieser Sache sehr unsicher, deshalb können wir nur vermuten, daß die Absicht, die dieser Aufbewahrung all der alten zauberkräftigen Wirkstoffe zugrundeliegt, die Annahme ist, daß ihre Anwesenheit in dem Zauberkasten, vor dem die Körperrituale vollzogen werden, auf irgendeine Art den Gläubigen beschützen wird.
Unterhalb der Zauberkiste befindet sich ein kleines Becken. An jedem Tag betritt in einer Folge jedes Mitglied der Familie den Schreinraum, beugt seinen Kopf vor dem Zauberkasten, vermischt verschiedene Arten heiligen Wassers in dem Becken und vollführt einen kurzen Waschritus. Die heiligen Wasser entströmen dem Wassertempel der Gemeinschaft, in dem Priester ausgearbeitete Zeremonien leiten, um die Flüssigkeit rituell rein zu machen. In der Hierarchie der zaubertätigen Fachleute finden sich, im Ansehen unterhalb der Medizinmänner, Spezialisten, deren Bestimmung am besten mit »Heilige Männer des Mundes« übersetzt wird. Schrecken und Faszination über den Mund sind bei den Renakirema fast pathologisch; man glaubt, daß sein Zustand einen fast übernatürlichen Einfluß auf alle sozialen Beziehungen habe. Wenn es die Mundriten nicht gäbe, so glauben sie, würden ihre Zähne ausfallen, ihr Zahnfleisch bluten, ihre Kiefer schrumpfen, würden ihre Freunde sie verlassen und ihre Liebhaber sie zurückweisen. Sie glauben auch, daß eine enge Verwandtschaft zwischen moralischen und oralen Kennzeichen besteht. Zum Beispiel gibt es eine rituelle Mundwaschung bei Kindern, die ihr moralisches Wesen starken soll. Das tägliche Körperritual, das von jedermann vollzogen wird, schließt einen Mundritus ein. Trotz der Tatsache, daß dieses Volk in der Sorge um den Mund so förmlich ist, schließt dieser Ritus einen Vorgang ein, der den uneingeführten Fremden als ekelerregend abstößt. Mir wurde berichtet, der Ritus bestehe darin, daß man ein kleines Büschel Schweineborsten in den Mund einführt, dazu einige zauberkräftige Pulver, und das Büschel dann in einer Serie äußerst formeller Gesten bewegt.
Zusätzlich zu diesem persönlichen Mundritus suchen die Leute ein- oder zweimal im Jahr einen heiligen Mann des Mundes auf. Diese Fachleute besitzen eine eindrucksvolle Ausrüstung, die aus einer Vielzahl von Bohrern, Sonden und Stachelstöcken besteht. Der Gebrauch dieser Instrumente bei der Austreibung der Übel des Mundes schließt eine fast unglaubliche rituel le Folter des Patienten ein. Der Heilige des Mundes öffnet den Mund des Patienten und vergrößert, die obengenannten Werkzeuge gebrauchend, alle Löcher, die die Fäulnis in den Zähnen verursacht haben mag. Zaubermaterialien werden in diese Löcher gestopft. Wenn keine natürlich entstandenen Löcher in dem Zahn sind, werden große Teile eines oder mehrerer Zähne ausgehöhlt, damit die übernatürliche Substanz eingefüllt werden kann. Aus der Sicht des Patienten ist der Sinn dieser Hilfsmaßnahmen, die Fäulnis aufzuhalten und Freunde anzuziehen. Der äußerst geheiligte und traditionelle Charakter des Ritus wird durch die Tatsache deutlich, daß die Eingeborenen Jahr für Jahr zu dem heiligen Mann des Mundes zurückkehren trotz der Tatsache, daß ihre Zähne zu verfaulen fortfahren.
Es ist zu hoffen, daß nach einem gründlichen Studium der Renakirema, eine sorgfältige Untersuchung der Personalstruktur dieser Menschen angestellt wird. Man braucht nur den Glanz im Auge eines Mundheiligen zu beobachten, während dieser eine Ahle in einen freigelegten Nerv stößt, um zu vermuten, daß dabei ein gewisser Anteil Sadismus eine Rolle spielt. Wenn dies festgestellt werden kann, entsteht ein interessantes Bild, denn der größte Anteil der Bevölkerung zeigt eindeutig masochistische Tendenzen. Auf diese bezog sich Professor Linton, als er einen speziellen Teil des Körperrituals
Weitere Kostenlose Bücher