Anthropofiction
Behandlungsmethoden gelernt. Wir brauchen einfach keine Ärzte mehr. Uns helfen die Erfahrungen anderer Leute.«
»Erfahrungen?«
Nichts davon war realistisch. Miriam war sicher. Aber Clark hatte die Autorität, die Eltern nun mal haben, und Miriam wußte, daß Eltern immer recht hatten.
»Ja, sicher! Wenn du Windpocken hättest und draußen in der Stadt wärst, wo dich jeder sehen könnte, käme sehr bald jemand, der sie auch schon gehabt hat. Er würde dir sagen, was du hast und was du dagegen tun mußt. Du brauchst keinen Dollar zu zahlen, um dir etwas verschreiben zu lassen. Nun, ich brauchte Silas Laphams Nerventonikum für meine Frau, als sie ihre Periode hatte und es ihr schlecht ging. Sie fühlte sich danach pudelwohl – hat uns nichts gekostet, außer den paar Cents für das Nerventonikum. Wenn du krank bist, stellen wir dich deshalb auf den Platz, und du stehst da, bis jemand kommt, der mal die gleichen Symptome hatte. Dann versuchst du wie er, deine Krankheit loszukriegen. Gewöhnlich klappt das prima. Wenn nicht, ist bestimmt ein anderer da. Natürlich können wir keinen der Kranken vom Platz lassen, bevor er gesund ist; keiner will sich schließlich anstecken.«
»Wie lange wird es dauern?«
»Nun, wir probieren etwas von dem Zeug, das May sie Campbell nimmt – und Gilyard Pinckneys Penicillin-Rezepte. Wenn das nicht hilft, müssen wir warten, bis ein Tourist aufkreuzt.«
»Aber wie sollte ein Tourist auf die Idee kommen, daß er über seine Krankheiten sprechen soll?«
»Er muß! Es ist Gesetz! Du kommst mit mir nach Hause und wir werden versuchen, deine Mutter wieder auf die Beine zu bringen.«
Miriam lernte Clarks Frau und Familie kennen. In der ersten Woche wollte sie ihre Koffer nicht auspac ken. Sie war sicher, daß sie bald würde weiterreisen können. Wenn sie es nur hier aushalten konnte! Sie probierte Asa Whitleafs Tonikum an ihrer Mutter aus und behandelte ihren Fuß mit der Salbe, die Harmon Johnson seinen Jüngsten gab, wenn sie Geschwüre hatten. Sie gab ihr auch Gilyard Pickneys Penicillin.
»Sie macht überhaupt keinen besseren Eindruck«, sagte Miriam eines Tages zu Clark. »Vielleicht könnte ich sie nach Richmond oder Atlanta ins Krankenhaus bringen.«
»Wir können sie nicht aus Babylon hinauslassen, bevor sie gesund ist. Sie könnte ihre Krankheit in andere Städte schleppen. Außerdem, wenn wir sie heilen, wird sie alle Landkrankenschwestern hierherschicken, damit sie unsere Methoden versuchen. Außerdem kann ihr Reisen schaden. Dir wird es hier schon gefallen, Mädchen.« In dieser Nacht packte Miriam ihre Koffer aus. Montag nahm sie einen Job als Verkäuferin im Diskontladen an.
»Sie sind die Neue, wa?« Das Mädchen hinter der Theke der Schmuckabteilung kam freundlich und interessiert auf sie zu. »Warten Sie auch schon? Nein –, sicher nicht, dafür sehen Sie zu jung aus.«
»Nein, ich habe noch nie auf Leute gewartet. Das hier ist mein erster Job«, sagte Miriam vertraulich.
»Ich meine nicht diese Art zu warten«, sagte das Mädchen spöttisch. Dann sagte sie, scheinbar neben bei: »Sie kommen aus einer schönen großen Stadt, wie ich hörte. Sie haben sicher schon genug von den Jungs und so wollen Sie nicht mehr warten.«
»Was meinen Sie? Ich habe noch nie gewartet, noch nie! Ich bin ein anständiges Mädchen!«
Fast schluchzend lief Miriam zurück in das Büro des Filialleiters. Sie wurde der Süßwarenabteilung, die ein paar Ladentische weiter lag, zugeteilt.
In der Nacht blieb Miriam lange wach. Mit einer Straßenkarte und einer Taschenlampe lag sie da und überlegte und überlegte.
Am nächsten Tag war das Schild »Keine Besuchszeit« von den Bäumen im Park verschwunden und Miriam besuchte ihre Mutter.
»Ich fühle mich schrecklich, Liebes. Du mußt im Laden arbeiten, während ich hier draußen unter diesen schönen Bäumen liege. Du solltest daran denken, was ich dir erzählt habe. Laß dir keinen dieser Straßenjungen zu nahe kommen. Gerade daß du in dem Diskontladen arbeitest, macht den Eindruck, als wärst du kein anständiges Mädchen. Sobald ich kann, werde ich dich aus diesem Laden herausholen. Oh, ich wollte, ich wä re schon wieder auf den Beinen.«
»Arme Mama!« Miriam glättete das Laken und schob einen Stapel Filmmagazine unter das Kopfkis sen. »Wie kannst du es nur aushalten, den ganzen Tag hier draußen zu liegen?«
»Ist nur halb so schlimm, wirklich. Und, weißt du, diese Mrs. Whitleaf scheint etwas über meine Schmer zen zu
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