Anthropofiction
terrestriale Kontrolle hat in der Tat den Kelch zerbrochen, indem sie fundamentale kulturelle Werte verletzte; ihrer beraubt, schleppt die Gesellschaft sich ohne Bedeutung und Kreativität dahin.
So kommt es, daß die terrestriale Expansion weniger ein Triumphmarsch als ein sich ausbreitender Schandfleck der Zerstörung und planetarischen Neurose gewesen ist. Wir mußten die Lektion von der essentiellen Einheit einer Gesellschaft und den Katastrophen, die der Zerstörung scheinbar unwichtiger Kulturelemente folgen, neu erlernen. Wir mußten neue Verhaltensweisen der Gewissenhaftigkeit und Bescheidenheit im Umgang mit Kulturen entwickeln, die uns anomal erscheinen. Vor allem – und das ist die der DEI hauptsächlich verbleibende Aufgabe – mußten wir wirklich objektive Methoden erfinden, die uns erlauben, die wesentlichen Elemente neuer Kulturen ohne terrestriale Vorurteile zu bewerten. Nur auf der Basis solch unpersönlicher Wertungen kann eine Gesellschaft unter terrestriale Vormundschaft gebracht werden ohne irreparablen Schaden oder totale Vernichtung.
Das Tonbandgerät klickte, als Lloyd Best aufhörte, zu diktieren. Er erhob sich, ging in die Küche und begann mit Eiswürfeln herumzufummeln, um einen Drink herzustellen. Best war einer jener Männer, bei denen man sicher sein kann, daß sie jede manuelle Tätigkeit verpfuschen; infolgedessen schien ihm die gewöhnliche Lebenstätigkeit außerhalb seiner Arbeit aus unzähligen kleinen unerfreulichen Pflichten zu bestehen. Wehmütig erinnerte er sich an das Geschick, mit dem seine Sekretärin Drinks und dazu noch ein kleines Abendessen bereitet hatte, wenn sie ihm bei einer zusätzlichen Arbeit in seinem Appartment half. Jene Nächte waren angenehm. Eine Zeitlang hatte er geglaubt, es werde eine tiefere Beziehung entstehen, aber in letzter Zeit war Merriel ganz kalt gewesen.
Nach einem planlosen Geplansche trug er sein Gebräu ins Wohnzimmer zurück und setzte sich neben das Tonbandgerät, fing aber nicht gleich zu diktieren an. Er überdachte noch einmal, was er bereits gesagt hatte und versuchte festzustellen, ob ihm irgendwelche Andeutungen entschlüpft waren. Das Lehrgangsmaterial für den Übungskurs der DEI-Interpretationsabteilung durfte keinerlei Anspielungen auf die Gefan genen enthalten, nicht einmal indirekte. Er seufzte trä ge. Die Gefangenen waren eines der großen Geheimnisse des Departments. Jede Veröffentlichung dieser Metho de, individuelle kulturelle Motivationen zu bestimmen, ließ eine überschäumende Reaktion von Seiten der betroffenen Gesellschaften erwarten. Zweifellos war die aus dem Studium der Gefangenen gewonnene Information die durch die Notwendigkeit der Geheimhaltung erforderte Mühe wert, aber Lloyd fand sie äußerst widerwärtig. Die unaufhörliche Geheimnistuerei machte es unvermeidlich, daß es einige Wissende und einige Nicht-Wissende geben sollte, und zerstörte gewissermaßen den Sinn einer vereinten Inangriffnahme des Problems der Motivationen. Der Versuch, Information zugleich zu vermitteln und zurückzuhalten, war frustrierend. Er schärfte seinen Geist an dem doppelten Problem:
Auf praktischer Ebene hängt die Bewertung kultureller Motivationen von der Analyse geschulter Beobachter ab und findet ihren Platz in der allgemeinen Disziplin zeitgenössischer Anthropologie. Den Gegenstand dieses Studiums bildet die Synthese des Individuums und seiner Kultur. Das Verständnis für diese Synthese war das große Meisterstück der Anthropologen des zwanzigsten Jahrhunderts, und zu ihrem Schaden haben die galaktischen Politiker des einundzwanzigsten und zweiundzwanzigsten Jahrhunderts es außer acht gelassen. Seither sind wir klüger geworden, und das Department für extraterrestriale Integration ist ein Ergebnis dieser Reform. Tatsächlich ist es ein riesiges Laboratorium für angewandte zeitgenössische Anthropologie, deren Entdeckungen es der Erde ermöglichen, die Sozialstruktur ihrer Töchter ohne die Gewißheit einer Katastrophe zu ändern.
Lloyd schlürfte seinen Cocktail und ordnete seine Gedanken.
Es ist offenbar, daß die Anthropologie das Problem der Persönlichkeit in Angriff nimmt, wo es sich auf einem Stand befindet, wo es diffus, statistisch und in gewissem Grade subjektiv ist. Keine Summe von Übung und Erfahrung garantiert ein von den Vorurteilen des Beobachters freies Urteil. Erst, wenn die Mechanismen von Persönlichkeit und Neurose aufgedeckt sind, werden unsere Lösungen die solide Zuverlässigkeit
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