Anthropofiction
als sie vom Hauptgang abbog, sah sie, beinahe mit einem Gefühl nervösen Widerwillens, daß es diesmal möglich sein würde. Ihre Erscheinung hatte den Blick des unvermeidlichen Wachtpostens am anderen Ende des Durchgangs auf sich gelenkt, der ihr auf seiner endlosen Patrouille entgegenkam. Sie ging ihm entgegen und achtete scharf auf den dunklen Ausgang zu ihrer Rechten, als sie daran vorbeikam. Sie ging weiter den Gang hinunter und warf ihm von der Seite ein Lächeln zu. Der Wachtposten nickte der vertrauten Gestalt zu, setzte aber seine Runde in Richtung auf den Hauptkorridor fort, weil er verpflichtet war, am Ende jeder Runde dort zu erscheinen und sich zur gegebenen Zeit notieren zu lassen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, daß allein diese Verpflichtung ihn vor einer Gewalttat von Seiten des verzweifelten Mädchens bewahrte, das umgekehrt war und ihm nun lautlos folgte. Die Prozession der beiden passierte den Ausgang D; dann ging der Wachtposten allein weiter.
Merriel erlaubte sich zehn gefahrvolle Schritte in den Ausgang D und preßte sich dann gegen die Wand. Ihr Körper bebte vor übermäßiger Anstrengung. Tatsächlich war das Risiko bis zu diesem Punkt gering gewesen. Wenn der Wachtposten umgekehrt wäre, hät te sie eine Frage bereit gehabt, und es hätte ausgesehen, als sei sie ihm nur gefolgt, um diese an ihn zu richten. Was den Ausgang D betraf, so hätte ihr erster Schritt hinein einen Alarm auslösen können, aber alles, was sie wußte, deutete darauf hin, daß die Fallen sich am anderen Ende befanden. Jetzt war sie im Dunkeln einigermaßen sicher, falls nicht ein unglücklicher Einfall den Wachtposten mit seiner Taschenlampe in den Korridor leuchten ließ. Dennoch ließ ein rascher Blick von ihm, als er den Ausgang passierte, sie erneut erzittern. Während sie ihre einfachen Vorbereitungen traf, warte te sie seine Rückrunde ab. Dann bog sie ihren Halsschmuck auseinander. Nun hielt sie einen überzogenen, formbaren Draht in den Händen, den sie langsam vor sich in einem vertikalen Bogen schwenkte, während sie ebenso langsam den Flur hinunterging.
Drei Schritte, und der Draht flammte blau auf. Bestürzt blieb Merriel stehen. Sie war die ganze Zeit, während sie darauf wartete, daß der Wachtposten vorbeikam, fast besinnungslos gewesen. Der Ultraviolettstrahl mußte natürlich auf eine Reihe elektrischer Photozellen treffen; eine Unterbrechung des Stromkreises hätte sämtliche Alarmanlagen am Ort ausgelöst. Die Prüfung mit dem Draht ergab, daß der Strahl den Flur im rechten Winkel wie ein Vorhang durchkreuzte, der einen Fuß hoch kurz über dem Boden aufhörte. Ein kurzes Zögern, und Merriel wand sich flach auf dem Boden, schloß ihre Handtasche und schwenkte den Draht vor sich her. Als sie wieder aufstand, konnte sie ein hysterisches Kichern nur mit Mühe unterdrücken. Sie wurde sich bewußt, daß sie während der Feuerprobe verzweifelt an einem ungewöhnlichen Bild ihrer selbst festgehalten hatte – einem praktisch zweidimensionalen.
Die erste Tür mußte jetzt nahe sein. Bis er gegen sie kratzte, zeigte der Draht nichts an. Merriel wagte nicht, zu denken. Sie tastete nach dem Schloß und benutzte Bests gestohlenen Schlüssel. Es klappte. Ein kurzes Wedeln mit dem Draht, und sie ging hindurch. Nach einigen vorsichtigen Schritten zwang sie sich, zurückzugehen, um die Tür wieder zu schließen. Es war durchaus möglich, daß der Wachtposten sich veranlaßt sah, sie zu untersuchen.
Auf halbem Wege den zweiten Korridor entlang brannte der Draht wieder, und Merriel wiederholte ihre Vorstellung. Diesmal jedoch zeigte der Draht, während sie noch unter dem Strahl lag, einen weiteren an, zu dicht, als daß es ihr möglich gewesen wäre, auch nur zu stehen. Und dieser Vorhang reichte ganz bis auf den Boden hinunter. Das Mädchen blieb eine volle Minute lang ausgestreckt liegen und versuchte, sich zu beherrschen. Nach dieser Pause begann sie mit unendlicher Vorsicht, das letzte Hilfsmittel aus ihrer Handtasche zu kramen, einen winzigen, batteriebetriebenen Ultraviolett-Generator, der einen breiten, flachen Strahl warf. Mit Hilfe des fluoreszierenden Drahtes richtete sie den Strahl auf den gleichen senkrechten Streifen auf der gegenüberliegenden Wand, auf den der Originalstrahl traf; daß dies die linke Wand sein mußte, war daraus ersichtlich, daß die rechte Seite des Drahtes fluoreszierte. Die Photozellen nahmen die Überladung ruhig auf, und Merriel machte, dem Zusammenbruch nahe, wieder
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