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Anthropofiction

Anthropofiction

Titel: Anthropofiction Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon E.Stover und Harry Harrison
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eine Pause. Nach der Arbeit in dieser unbequemen Stellung, unter psychischer Anspannung, war sie naß wie nach einem Bad.
    Als sie sich halbwegs wieder erholt hatte, krabbelte sie hinter die außer Gefecht gesetzten Photozellen und ließ den ausgerichteten Generator hinter sich zurück. Es war hoffnungslos, ihn hinter dem zweiten Vorhang wegzunehmen, ohne seine Ausrichtung zu zerstören. Sollte noch ein weiterer Strahl da sein, war sie geschlagen.
    Es gab keine weiteren. Im nächsten Augenblick stand sie vor der Tür der Gefangenen.
    Zu dieser Tür besaß sie keinen gestohlenen Schlüssel. Das einzige, was sie hatte tun können, war, einen Wachsabdruck zu machen, und der Trick, mit dem sie ihn sich verschafft hatte, war aus einem Guß mit dem unvernünftigen Wagemut dieser Nachtarbeit. Sie erinnerte sich an das warme Wachs in ihrer Hand. »Ist das meiner?« hatte sie gefragt, als sie Bests Schlüssel an sich genommen hatte. Sie hatte so getan, als prüfe sie ihn genauer, währenddessen sie ihn die ganze Zeit mit den Fingern in das Wachs auf ihrer Handfläche preßte. »Ich dachte, es sei der Schlüssel zu meinem Schreibtisch«, hatte sie dann gesagt, und gab ihn zurück. Best hatte sie sonderbar angesehen; der höfliche, immer strahlende Best, dem ihr Herz sich zugewandt hatte, bis sie entdeckte, daß auch er in das ungewöhnliche Verbrechen verstrickt war, menschliche Wesen von hundert verschiedenen Planeten in dem Raum hier gleich hinter dieser Tür gefangenzuhalten, um im Namen der Anthropologie ihre Reaktionen zu studieren. So hatte sie nach dem Abdruck den Schlüssel angefertigt, wohl wissend, daß er unzulänglich sein konnte. Noch ein Zufall, dachte sie; es war ein Wunder, daß sie überhaupt so weit gekommen war. Sie nahm eine winzige Kamera aus ihrer Handtasche und tastete in der Dunkelheit nach dem Schloß. »Diese cleveren Teufel«, murmelte sie laut. Sie meinte Best und all die anderen. Sie steckte den Schlüssel ein.
    Merriel wurde zu einer Frau des Lichts. Elektrische Funken umgaben sie mit einem Glorienschein, und eine überwältigende Kraft schleuderte sie gegen die Tür, die sie zu öffnen versucht hatte. Sie sollte nicht verletzen, sondern nur festhalten, aber erschöpft von ihrer langen, schweren Prüfung, hatte das Mädchen keine Widerstandskraft. Der Atem wurde ihr aus den Lungen gepreßt, und ihre unglücklich eingeklemmten Rippen zerbrachen unter dem Druck. Der Gang war von Licht überflutet, und überall schellten Alarmglocken. Sogar, als ihr Bewußtsein sich verdunkelte, konnte sie noch immer die Glocken schrillen hören, endlos schrillen.
    Das zentrale Problem, dem wir gegenüberstehen, wenn die terrestriale Kontrolle ausgeweitet wird, um Planeten oder Systeme einzubeziehen, die Jahrhunder te lang von der Mutterkultur isoliert gewesen sind, ist die soziale Neurose. Man muß daran erinnern, daß die große Emigration, die auf die Entwicklung des Shroedinger Antriebs folgte, das unkontrollierte Produkt einer chaotischen Ära gewesen ist und größtenteils einen Protest gegen die bestehenden Verhältnisse darstellte. Die Emigranten rekrutierten sich daher aus den am meisten abweichenden Elementen der Bevölkerung und waren durch verschiedene Ideale von sozialer Gerechtigkeit motiviert, die zu Hause nicht populär waren. Daraus resultierte, daß die Hauptarbeit der Kolonisation von jenen Männern und Frauen getan wurde, die am wenigsten mit dem breiten Strom der terrestrialen Kultur jener Tage sympathisierten, die vielmehr geneigt waren, soziale Strukturen zu entwickeln, die von denen, die sie zurückgelassen hatten, verschieden waren. Als die Kräfte, die den ersten Exodus veranlaßt hatten, erschöpft waren, setzte eine langsame kontrollierte Expansion ein, die schließlich die ursprünglichen Kolonisten überwältigen sollte, welche inzwischen in wirksamer Isolation die andersartigen und oft bizarren Gesellschaftsformen entwickelt hatten, die uns heute überraschen.
    Das gewaltsame Einreißen der Isolationsmauer, die solch eine Kultur schützte, führt, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat, zu einer Reihe von Übeln: gegenseitiger Mangel an Verständnis, aktiver Widerstand und abweisende Antipathie sind die gewöhnlichen Folgen des Versuchs, die neue Gesellschaft unter terrestriale Kontrolle zu bringen. Eine Kultur ist ein einheitliches Ganzes, entsprechend einem urzeitlichen Sprichwort: »Gott gab jedem Volk einen Kelch voll Erde, und aus diesem Kelch tranken sie ihr Leben.« Die

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