Anthropofiction
konnte nicht feststellen, in welcher Höhe sich die Decke befand; jedenfalls, wie er bald bemerk te, weitaus höher als ein Mensch zu springen vermochte. Der Boden hatte ringsum keine Kanten, sondern ging in einer konkaven Krümmung in Wand und Decke über. Bei jedem Schritt drohte er das Gleichgewicht zu verlieren. Vertikale und Horizontale hatten hier keine konstante Bedeutung mehr. Außerdem war Eisenbergs Gleichgewichtssinn ohnehin gestört, verursacht durch viele Jahre Taucharbeit. Jedenfalls erwies sich das Sitzen als unproblematischer als das Stehen und Laufen, und nach der ersten Erkundung gab es keinen Grund mehr zu weiterer Aktivität.
Bei seinem Erwachen hatte der Mangel jeder greifbaren Gegenständlichkeit ihn verwirrt. Es schien, als befände er sich in einer gewaltigen Eierschale, in die von außen ein sanftes, bernsteinfarbenes Licht drang. Die Formlosigkeit der Umgebung war bedrückend; er schloß die Augen, schüttelte den Kopf und öffnete die Augen wieder – nichts hatte sich verändert.
Allmählich erinnerte er sich der letzten Eindrücke, bevor er das Bewußtsein verloren hatte – der huschen de Kugelblitz, sein erschrockener, vergeblicher Versuch, ihm auszuweichen, die Gedanken, die ihm in jener unendlich langen Sekunde vor dem Kontakt durch den Kopf zuckten. Sein Verstand suchte nach einer Erklärung. Kälteschock, dachte er, die Nerven gelähmt. Er war froh, nicht erblindet zu sein.
Irgendwie sollten sie ihn nicht so allein lassen in diesem hilflosen Zustand. »Doc!« rief er. »Doc Graves!«
Keine Antwort, kein Echo – er bemerkte, daß es kein Geräusch gab, bis auf seine eigene Stimme; sogar die kleinen Nebengeräusche fehlten, die sonst jede normale Stille begleiten. An diesem Ort war es so still wie in einem Sack voll Mehl. War sein Gehör zerstört?
Nein, er hatte die eigene Stimme vernommen. Er starrte auf seine Hände, erkannte sie deutlich – auch seine Augen waren in Ordnung. Auch sein Körper war unversehrt. Er war nackt.
Es mochten mehrere Stunden vergangen sein, vielleicht auch nur Sekunden, bis er als gesicherte Erkenntnis annahm, er sei tot. Es war die gegenwärtig einzig einleuchtende Erklärung für die Lage, in derer sich vorgefunden hatte. Als materialistischer Wissenschaftler hatte er nie ein Leben nach dem Tod erwartet; er hatte geglaubt, einmal zu verlöschen wie eine kleine Flamme erlischt.
Er war in ein elektrostatisches Feld geraten, dessen Energie zu mehr ausreichen würde als einen Menschen zu töten; aller zu Bewußtsein gelangte, fand er sich außerhalb jeder bekannten Verhältnisse, die das menschliche Leben ausmachen. Also war er tot.
Quod erat demonstrandum.
Sicher, er schien einen Körper zu haben, aber das war nur ein subjektiver Eindruck. Er besaß noch ein Gedächtnis, und den stärksten Anteil in einem Gedächtnis hat das Körperbewußtsein. Dies war nicht sein Körper, sondern nur die sensuelle Erinnerung daran, überlegte Eisenberg. Wahrscheinlich, dachte er, würde dieser Nachhall des Körperbewußtseins in dem Maße verschwinden, wie die Erinnerung an den objektiven Körper nachließ.
Nichts war zu tun, nichts zu erkunden, nichts gab es mehr, was seine Gedanken beschäftigen konnte. Endlich schlief er ein, mit dem Gedanken, daß, wenn dies das Leben nach dem Tod sein sollte, es ein schöner Mist war.
Er erwachte gestärkt, aber mit einem grausamen Hungergefühl und entsetzlich durstig. Die Frage nach Tod oder Leben interessierte ihn nicht mehr, Theologie und Metaphysik waren jetzt bedeutungslos. Er hatte Hunger.
Beim Erwachen konstatierte er außerdem eine Veränderung, die den Gedanken an den eigenen Tod weitgehend verdrängte. Er fand neben sich materielle Objekte, die er sehen und berühren konnte.
Und essen.
Die letztere Annahme war ein wenig gewagt, denn was er erblickte, sah nicht wie Nahrung aus. Es gab zwei Dinge. Das eine waren formlose Klumpen ohne erkennbare Eigenschaften außer der einer fettigen Schleimigkeit, nicht eben appetitlich. Das andere waren zwei Dutzend kristallartiger Kugeln, perfekt abgerundet und eiskalt; in dem bernsteinfarbenen Licht schimmerten sie wie Kristalle.
Hübsch waren sie, aber sahen nicht verzehrbar aus, was bei den ekelhaften Klumpen eher der Fall sein mochte. Eisenberg klaubte einen winzigen Brocken heraus, roch daran und probierte vorsichtig. Es schmeckte sauer und widerlich. Er spuckte es aus, ver zog das Gesicht und wünschte, er könnte sich die Zäh ne putzen. Falls das Nahrung war, würde
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