Anthropofiction
der Hunger noch lange warten müssen.
Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder den kristallähnlichen Kugeln. Sie in den Händen haltend, genoß er ihre kühle Berührung. In jeder einzelnen Kugel sah er das eigene Spiegelbild, winzig, elfenhaft, anmutig. Er wurde sich – erstmals in dieser Deutlichkeit – der Schönheit des menschlichen Körpers bewußt, jeder menschlichen Gestalt, betrachtete man sie als ein Kunstwerk und nicht als eine Reihe widerstrebender Einzelheiten.
Aber der Durst wurde dringlicher als die narzißtischen Anwandlungen. Er kam auf den Gedanken, daß die Kugeln, nahm er sie in den Mund, den gleichen Zweck erfüllen könnten wie Steine, nämlich den Speichelfluß zu fordern. Er versuchte es; die Kugel stieß gegen seine Zähne, als er sie in den Mund nahm, und plötzlich war sein Mund, waren seine Lippen von Näs se überschwemmt, die auf seine Brust tropfte. Die Kugeln bestanden aus Wasser, aus nichts als Wasser ohne Hül le, ohne Behälter. Man hatte ihm Wasser gereicht, nett verpackt durch einen unbekannten Trick.
Er nahm eine andere Kugel, vorsichtiger, indem er sie in den Mund führte, ohne die Lippen zu berühren. Es klappte – sein Mund füllte sich mit reinem, klarem Wasser; zu schnell – er hustete. Aber er hatte begriffen; er schlürfte vier Kugeln!
Als der Durst gelöscht war, wandte er den Kugeln sein Interesse von der wissenschaftlichen Seite zu. Die Kugeln waren massiv; sie ließen sich nicht durch Reibung schmelzen, und sie zerbrachen nicht, als er sie heftig auf den Boden warf. Vielmehr hüpften sie wie Gummibälle. Er versuchte eine Kugel mit den Fingernägeln aufzureißen. Schließlich gelang es ihm, und das Wasser lief zwischen seinen Fingern hindurch – nur Wasser, keine Haut oder irgendeine fremdartige Substanz. Es schien, als könne nur ein Schnitt den starren Zustand des Wassers aufheben.
Eisenberg beließ es dabei, denn die Anzahl der Kugeln war begrenzt, und vorläufig standen keine weiteren in Aussicht, weshalb es vernünftig war, sparsam damit umzugehen.
Nachdem er den Durst gestillt hatte, nagte der Hunger umso stärker. Er befaßte sich nochmals mit der schleimigen Substanz und zwang sich, sie zu kauen und zu verschlucken. Es mochte keine Nahrung sein, vielleicht sogar Gift, aber es füllte den Magen und beseitigte den Hunger. Er fühlte sich immerhin gesättigt; den üblen Geschmack spülte er mit einer weiteren Portion Wasser hinunter.
Später ordnete er noch einmal seine Gedanken. Er war nicht tot, oder falls doch, so war der Unterschied zwischen Leben und Tod gering. Nun gut, er lebte. Aber man hielt ihn gefangen. Jemand wußte von ihm und kümmerte sich um ihn, hatte Nahrung und Getränk gereicht – geheimnisvoll, doch geschickt. Und war er ein Gefangener, mußte es auch einen Wächter geben.
Wessen Gefangener? Er war von einem LaGrange-Kugelblitz paralysiert und entführt worden und in diesem Raum wieder zu Bewußtsein gekommen. Es schien so, mußte Eisenberg sich eingestehen, als hätte Doc Graves recht; die Kugelblitze unterlagen einer intelligenten Kontrolle. Die Person oder die Macht, die sie lenkte, verfügte außerdem über merkwürdige We ge, Gefangene zu machen und sie unterzubringen.
Eisenberg war ein tapferer Mann, so tapfer wie der gewöhnliche Durchschnitt seiner Rasse. Er teilte mit ihr den Mut, dem Tod zu trotzen, ihm täglich ins Gesicht zu sehen, auf der Straße, im Operationssaal, auf dem Schlachtfeld, in den Wolken und in den Tiefen des Meeres – zuletzt auch den Mut, mit leichtem Herzen der Selbstverständlichkeit des Todes gegenüber zu treten.
Eisenberg war besorgt, aber ohne Panik. Seine Situation war immerhin neuartig und interessant; er langweilte sich nicht mehr. Wenn er ein Gefangener war, schien es einleuchtend, daß seine Entführer sich früher oder später näher mit ihm befassen würden, ihn vielleicht ausfragen wollten, oder ihn zu irgendeinem dunklen Zweck brauchten. Die Tatsache, daß man ihn nicht sofort getötet hatte, ließ den Schluß zu, daß man bestimmte Absichten mit ihm verfolgte. Er mußte sich darauf vorbereiten, wem oder was er auch begegnen sollte. Gegenwärtig gab es keine Möglichkeit, selbst aus der Gefangenschaft zu entkommen; das war ihm völlig klar. Dies war ein Gefängnis, das einen Houdini beschämen mußte – fahle, gleichmäßige Wände, kein Winkel, sich zu verkriechen.
Nur einmal verschwendete er einen kurzen Gedanken an Flucht: die Zelle besaß irgendeine Art sanitärer Vorrichtung,
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