Anti-Eis
dessen
Traum – von einem revolutionierten Europa – fast
realisierbar schien, aber letztlich doch unerreichbar war.
Nun sah er mich aus dem Augenwinkel an und fixierte mein leeres
Brandyglas. »Seid Ihr überhaupt in der Stimmung, von
weiteren Vorteilen von Anti-Eis zu hören? Zum Beispiel von den
hohen Temperaturen, die es erzeugt und die einen eindrucksvollen
Carnot-Wirkungsgrad ermöglichen, der sich proportional zur
Differenz der Arbeitstemperaturen zwischen…«
Ich fuchtelte mit meinem Glas in der Luft herum. »Meine
Güte, guter Mann, ich bin durchaus beeindruckt von Eurer
Gelehrsamkeit, aber mehr noch von Eurer Intuition. Ihr habt recht!
– Ich bin in der Tat nicht in der Stimmung, mich in diesen
wissenschaftlichen Gefilden zu bewegen. Aber schaut mal dort!«
Reichlich dramatisch schwenkte ich den Kopf zum Panoramafenster
hinüber.
Es war bereits sehr spät, und – anhand der Reflexionen
der rudimentären Glühstrümpfe der Waggons sah ich
diese satte Lumineszenz am Sternenhimmel, in der vergleichsweise
hellen Mittsommernacht. Und, wie ein vom Himmel gefallenes Floß
aus Sternen, zogen die Lichter eines großen Schiffes unterhalb
unseres metallenen Viaduktes vorbei. Wir reckten den Hals, als der
Zug uns von dem Schiff entfernte; aus der Perspektive der zunehmenden
Distanz waren die Lichter so deutlich zu erkennen, daß man die
Konturen des Schiffes ausmachen konnte. Das ganze Bild wurde von
blinkenden Warnlampen eingerahmt, die auf den Pylonen der Schwebebahn
montiert waren. »Meine Güte«, sagte Holden,
»welch ein wunderbarer Anblick.«
Ich mußte den Kopf von einer Seite zur anderen drehen, um
das Schiff in ganzer Länge überblicken zu können.
»Es muß ja eine halbe Meile lang sein! Sicherlich wird ein
solcher Leviathan von Anti-Eis angetrieben.«
Holden lehnte sich im Sessel zurück und orderte noch einen
Drink. »In der Tat. Bei diesem Monstrum kann es sich nur um die Great Eastern handeln.«
»Brunels berühmte Konstruktion?«
»Nein, nein; ich meine das Schiff, das vor etwa fünf
Jahren von Josiah Traveller entworfen und nach dem großen
Ingenieur benannt wurde.« Holden lächelte mir über
sein nachgefülltes Glas hinweg zu. »Es ist schon eine
Ironie, daß Traveller ähnliche finanzielle Probleme wie
Brunel bei der Finanzierung seiner Eastern hatte. Aber Brunels
Schiff war seinerzeit weder ›Fleisch noch Fisch‹: Ein
Passagierdampfer, der nicht ästhetisch und umweltfreundlich
genug war, um über den reinen Neuigkeitswert hinaus noch viel zu
bieten. Traveller hingegen hatte von vornherein beschlossen, sein
Schiff schwerpunktmäßig als Frachter zu konzipieren. Und
so umrundet das aufgrund seiner Größe praktisch unsinkbare
Schiff, das – dank der Cryosynthetiker – die
verderblichsten Waren konservieren und transportieren kann, mit
seiner Anti-Eis-Turbine die Welt und muß nicht einmal einen
Hafen anlaufen, um Treibstoff zu bunkern!«
Ich erhob den Schwenker und sagte, vielleicht etwas lauter als
eigentlich beabsichtigt: »Dann trinken wir auf Traveller und all
seine Errungenschaften!«
Holden erhob nun auch das Glas – sein runder Körper mit
den kurzen, ausgestreckten Armen erinnerte mich in diesem
beschwipsten Augenblick an einen lebendigen Ballon. »Josiah
Traveller«, sinnierte Holden. »Ein vielschichtiger
Charakter. Ein mindestens genau so guter Ingenieur wie Brunel, und
doch kaum befähigter als jener, sich mit den komplexen
Gegebenheiten der Welt zu arrangieren. Vielleicht ist er in dieser
Hinsicht sogar noch unbegabter. Brunel ist wenigstens unter die Leute
gegangen und hat mit anderen Kollegen zusammengearbeitet. Traveller
hingegen tüftelt meines Wissens abgeschieden in seinen Labors in
Farnham. Er arbeitet nicht mit Blaupausen oder am Reißbrett,
sondern entwickelt Prototypen neuartiger Erfindungen, die dann von
seinen Mitarbeitern zu funktionsfähigen Mechanismen
weiterentwickelt werden.«
»Und dennoch verfügt er über die Vision.«
»Ja, darüber verfügt er.«
Ich beugte mich interessiert nach vorn. »Und stimmt es denn,
Holden, daß Traveller auch schon durch die Lüfte geflogen
ist? Diese in Manchester gezeigten Photographien…«
Er winkte etwas zu lässig ab. »Wer weiß? Bei
Traveller kann man nur schwer zwischen Legende und Wahrheit
unterscheiden. Vielleicht ist seine lebhafte Phantasie – die
sicher ein Quell der Kreativität ist – gleichzeitig auch
sein Schwachpunkt. Betrachtet nur einmal dieses Prince
Albert-Projekt. Braucht Europa denn
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