Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Wunsch, etwas zu sagen, zu tun oder zu denken. Seit dem Mittelalter schwingt in dem Wort auch eine gewisse Arroganz mit. In einer Fußnote – dem strategischen Ort eines jeden Werks – beanspruchte Freud »die Freiheit […], Abhängigkeiten und Zusammenhänge aufzufinden [ sic ], denen nichts in der Wirklichkeit entspricht, und [unser Denken] schätzt diese Gabe offenbar sehr hoch, da es innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft so reichlichen Gebrauch von ihr macht.« ( Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1964), S. 139 f) Nach allem, was wir bisher in Erfahrung bringen konnten, hatten wir das schon geahnt.
Die erste Eigenschaft eines Konquistadoren ist also die Kühnheit. Anders gesagt: Es geht ihm nicht um Wahrheit, Tugend, Vernunft oder Wissenschaftlichkeit. Am 5. Dezember 1895 schrieb Freud an Fließ, er hoffe, dieser werde sich »seinerzeit nicht abhalten lassen, auch Vermutungen öffentlich Ausdruck zu geben« ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 161). Deutlicher noch das folgende Plädoyer pro domo: »Man kann Leute nicht entbehren, die den Mut haben, Neues zu denken, ehe sie es aufzeigen können.« (ebd.) Dieser Satz birgt den ganzen Freud: Man braucht keine Beweise, um Behauptungen aufzustellen, und wer so handelt, ist weder selbstgefällig noch arrogant, prätentiös, hochmütig oder sorglos, sondern – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – mutig.
Ein Freud, der in seinem Werk tausendfach den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit bekundete, konnte vor diesem Hintergrund problemlos vom »wissenschaftlichen Mythos« oder vom »historischen
Roman« sprechen. Was in seinen Texten als Hypothese, Postulat, Voraussetzung, Tasten, Spekulation oder Möglichkeit erschien, wurde wie von Zauberhand – nämlich einfach weil Freud es so wollte – zur grundlegenden Wahrheit der Psychoanalyse.
IV.
Das Unbewusste als performative Fiktion
»Das Unbewußte ist metapsychisch,
wir setzen es einfach real!«
Sigmund Freud bei einem Besuch Ludwig Binswangers in Wien
vom 15. bis 26 Januar 1910, wiedergegeben von Binswanger
(Freud/Binswanger, Briefwechsel,
Anhang: Bericht über die gegenseitigen Besuche, S. 261)
In »Selbstdarstellung« erzählt Freud, er habe vor der Gesellschaft der Ärzte in Wien einen Vortrag über seinen Aufenthalt bei Charcot in Paris gehalten, der gar nicht gut aufgenommen worden sei. An diesem 15. Oktober 1886 hatte er über Hysterie bei Männern gesprochen. Doch aus Sicht der traditionellen Mediziner, die sich auf die Etymologie des Begriffs »Hysterie« stützten (welche sich direkt auf den Uterus zurückführen lässt), betraf diese Krankheit nur Frauen. Das Oxymoron männliche Hysterie erschien ihnen deshalb schlicht als eine falsche Klassifizierung.
So verlangten sie von Freud, ihnen vor Ort ein Fallbeispiel vorzustellen. Er machte sich also in Wien auf die Suche nach geeigneten Probanden und besuchte verschiedene Einrichtungen. Deren Chefärzte verwehrten ihm jedoch den Zugang zu den Patienten. Schließlich entdeckte Freud außerhalb der Krankenhäuser einen Fall, den er der Gesellschaft der Ärzte präsentierte. Man reagierte höflich, mehr aber auch nicht.
Freud stellte die Sache so dar, als habe er die Gesellschaft der Ärzte nach diesem Vorfall einfach nicht mehr aufgesucht. Doch Ernest Jones selbst zeigte, dass dies nicht stimmte und dass Freud die Versammlungen weiterhin besuchte. Freud wollte mit seiner Version der Geschichte betonen, dass der revolutionäre Charakter
dieser Theorie, die er als seine eigene darstellte, nicht anerkannt worden sei. Angesichts der ewiggestrigen Ärzte, die nicht mit seinem neuartigen Denken zurecht gekommen seien, habe er auf eine Karriere in deren Institution verzichtet. Doch Jones berichtete, es habe unter den Ärzten durchaus einige gegeben, die Freuds als subversiv und originell dargestellter Theorie zugestimmt hätten.
Im Zuge seiner Legendenbildung ließ Freud auf diese Episode einen einzigartigen Satz folgen: »Als mir bald darauf das hirnanatomische Laboratorium versperrt wurde und ich durch Semester kein Lokal hatte, in dem ich meine Vorlesung abhalten konnte, zog ich mich aus dem akademischen und Vereinsleben zurück.« ( »Selbstdarstellung«, Bd. XIV, S. 39) Wahrscheinlich wollte die Ärztevereinigung Freud nach seinem Vortrag loswerden. Freud war seiner Zeit eben einfach voraus. So lautet zumindest die selbst fabrizierte Legende.
Doch wie wir gesehen haben, wurde sein Vortrag nicht einhellig abgelehnt. Es
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