Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
gab sogar einen Neurologen, der ihm zustimmte und berichtete, er habe zwanzig Jahre zuvor selbst einen Fall männlicher Hysterie untersucht. Ein weiterer meinte, er könne in Freuds Darstellung nichts Neuartiges entdecken; ein dritter und vierter plädierten für eine neuronale traumatische Ätiologie. Von offener Feindseligkeit oder gar einhelliger Ablehnung gegenüber dem jungen Freud war also nichts zu spüren. Nur hatte er, mit revolutionären Gedanken im Gepäck aus Paris heimkehrend, die Überzeugungen der alten Mediziner auch nicht in ihren Grundfesten erschüttert. Deshalb ergingen sie sich nicht in Elogen und enthusiastischem Applaus. Freud hatte wohl die Erwartung gehabt, wie ein Messias empfangen zu werden.
Sein Märchen über die alten Rückwärtsgewandten, die von den neuartigen Theorien des jungen Arztes nichts wissen wollten, obschon dieser ihnen die Wahrheit auf dem Silbertablett präsentierte, scheint also nicht zu stimmen. Prosaischer und zutreffender als die Legende ist, dass Freud beleidigt war, weil er nicht unmittelbar
nach dem Vortrag in die Gesellschaft aufgenommen wurde. Deshalb stellte er sich als Opfer des Systems dar, als genialen Außenseiter, der ohne Labor zurechtkommen musste. Und dennoch wollte er »von der Behandlung Nervenkranker leben« (ebd.).
Weil ihm die Gesellschaft der Ärzte in Wien dabei nicht behilflich war, gab er vor, sich von ihr abgewandt zu haben, ging tatsächlich aber noch mehrmals dorthin. Das Labor hatte er übrigens selbst verlassen, niemand hatte ihn hinausgeworfen, denn wäre das so gewesen, hätte er – wie man ihn kannte – sofort erzählt, wer ihn wann und wie vor die Tür gesetzt hätte. Er hätte den Namen des Schuldigen in seiner persönlichen Legende unsterblich und die Person damit auf alle Zeiten unmöglich gemacht.
Freud hasste diese Leute einfach, weil sie sein Genie nicht in angemessener Weise würdigten. Direkt im Anschluss an dieses Ereignis eröffnete er am Ostersonntag 1886 seine Praxis. Es war zugleich der Tag des Pessachfests, der an den von Moses geführten Auszug der Juden aus Ägypten erinnert, an die Zehn Gebote und die Reise ins Gelobte Land. Damit bekannte Freud Farbe: Die Gesellschaft der Ärzte wollte seine Karriere nicht voranbringen? Kein Problem, er war mindestens so wütend wie Moses und eröffnete seine Praxis nun im Zeichen des Religionsgründers. Man versteht nun noch besser, dass Michelangelos Moses ihn so lange beschäftigt hat.
Freud behauptete in »Selbstdarstellung«, dass er mit der Gesellschaft der Ärzte nichts mehr zu tun haben wollte und sich 1886 zurückgezogen habe (Bd. XIV, S. 39). Doch am 21. April 1896, zehn Jahre später, hielt er dort erneut einen Vortrag. Er hoffte entgegen seiner Behauptung wohl immer noch auf die Unterstützung der Organisation, die ihn anscheinend doch nicht hatte loswerden wollen: Denn weshalb sollte man ihm einerseits den Zugang zum Labor verwehren und ihn andererseits einen Vortrag halten lassen?
Unser angeblich ausgegrenzter Wissenschaftler trug den gelehrten Kollegen also die Thesen aus Die Sexualität in der Ätiologie
der Neurosen vor. Zum illustren Publikum aus Ärzten, Neurologen und Sexologen gehörte auch Richard von Krafft-Ebing, der berühmte Autor von Psychopathia sexualis, der Freud so stark inspiriert hatte. An Fließ schrieb Freud am 4. Januar 1898, er habe mit seinen Ausführungen den Bürgerlichen schockieren wollen. Sein Aufsatz sei impertinent und darauf ausgelegt, einen Skandal zu produzieren, was ihm nun auch gelingen werde.
Worum geht es in diesem angeblich so brandheißen Text? Man kann darin von Neurasthenie, verschiedenen Neurosen und anderen psychopathologischen Erscheinungsformen lesen, deren Gründe allesamt in einer dysfunktionalen Sexualität lägen. Die Beschäftigung mit diesen »Sexualitätskrüppeln« ( Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen, Bd. I, S. 504) ermöglichte Freud die Fortführung seines lebenslangen Feldzugs gegen die Selbstbefriedigung – eine Praxis, mit der er sich gut auszukennen schien: »Die Hauptleistung, die uns zugunsten der Neurastheniker möglich ist, fällt in die Prophylaxis. Wenn die Masturbation die Ursache der Neurasthenie in der Jugend ist und späterhin durch die von ihr geschaffene Verminderung der Potenz auch zu ätiologischer Bedeutung für die Angstneurose gelangt, so ist die Verhütung der Masturbation bei beiden Geschlechtern eine Aufgabe, die mehr Beachtung verdient, als sie bis jetzt gefunden hat.«
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