Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
besser ausdrücken: Wissenschaft entsteht im Dunkeln, und das Licht lässt auf sich warten, auch wenn es – hier war Freud zuversichtlich – durch fleißige Arbeit erreicht werden kann.
Auch in Trauer und Melancholie aus dem Jahr 1917 tappte Freud im Dunkeln und gab das offen zu: »So werden wir den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit unserer Ergebnisse von vornherein fallen lassen« (Bd. X, S. 428). Er wartete also auf Resultate, die eine echte Schlussfolgerung zuließen. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, eifrig allerlei Thesen aufzustellen. Der Zweifel war bei ihm kein strukturelles, sondern ein konjunkturelles Phänomen.
In Jenseits des Lustprinzips schrieb Freud, er sei von den eigenen Thesen insbesondere in diesem Werk nicht überzeugt; sie seien vor allem dann problematisch, wenn man versuche, sie mit
dem Gesamtwerk in Einklang zu bringen. Über seine neuen Hypothesen sagte er, er verlange auch von anderen nicht, daran zu glauben, ja er wisse selbst nicht, inwieweit er daran glaube. Und weiter: »Nur solche Gläubige, die von der Wissenschaft einen Ersatz für den aufgegebenen Katechismus fordern, werden dem Forscher die Fortbildung oder selbst die Umbildung seiner Ansichten verübeln.« ( Jenseits des Lustprinzips, Bd. XIII, S. 69). Er hoffte also auf zukünftige Entdeckungen.
Man muss sich klarmachen, dass es für Freud nur zwei Möglichkeiten gab: Widersprüchlichkeit oder Katechismus. Und weil sich niemand gern als frommer Nachbeter sieht, musste er wohl oder übel die Widersprüche akzeptieren, die letztlich nur ein – weniger gut ausgearbeiteter – Katechismus waren. Währenddessen wartete er auf die Lösungen, zu denen er sicherlich bald gelangen würde, widmete er doch all seine Zeit und Genialität der Suche nach ihnen.
In »Selbstdarstellung« präsentiert er einen interessanten Vorschlag, wie sich seine wechselnden Ansichten unter ein und derselben epistemologischen Formel subsumieren ließen: Die Einheit der Vielheit ergebe sich aus dem metaphorischen Charakter seiner Texte. Zum Beispiel benutzte er Raummetaphern, um die Funktionsweise der Psyche zu beschreiben. Doch Metaphern seien eben nicht mit der Realität zu verwechseln. Änderten sie sich, so bliebe die Realität doch dieselbe. Freud hätte nicht deutlicher eingestehen können, dass die Psychoanalyse letztlich eine literarische Psychologie ist – genau so wie Marcel Proust sie in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit darstellt.
Freuds Metaphern für die Modalitäten der Psyche stammen also nicht aus dem zerebralen, somatischen oder anatomischen Bereich: »Solche und ähnliche Vorstellungen gehören zu einem spekulativen [ sic ] Überbau der Psychoanalyse, von dem jedes Stück ohne Schaden und Bedauern geopfert oder ausgetauscht werden kann, sobald eine Unzulänglichkeit erwiesen ist.« ( »Selbstdarstellung«, Bd. XIV, S. 58) Was auch immer er sich
dabei gedacht haben mochte, mit der Erwähnung dieses spekulativen Überbaus verortete Freud sich in dem ehrenhaften Gebiet der Philosophie, Seite an Seite mit Kollegen wie Schopenhauer oder Nietzsche!
In Die Frage der Laienanalyse betonte Freud den dynamischen und plastischen Charakter der Psychoanalyse. Als Wissenschaft sei sie noch im Entstehen begriffen. Es sei nicht sicher, dass sie einer Überprüfung in ihrer gegenwärtigen Form standhielte. Freud selbst erklärte die Psychoanalyse zu einer dialektischen Allegorie, einer durch neue Ergebnisse wandelbaren Metapher. Als unvollendete, sich in steter Bewegung befindliche Lehre kann sie natürlich auch nie ganz erfasst werden. So sicherte sich die Theorie ihre eigene Unbegreifbarkeit – ein nützliches Instrument in jeder Auseinandersetzung.
Betrachten wir ein weiteres Beispiel: In Das Unbehagen in der Kultur behandelt Freud ausgiebig verschiedene Thesen, etwa über die Entwicklung des aufrechten Gangs und die daraus resultierende Befreiung der Hände, die gleichzeitige Entwicklung des Gehirns, die Entstehung des Neokortex; den Übergang von olfaktorischer zu visueller Stimulierung; die Isolation der Frauen während der Menstruation; die Entwicklung der Familie auf der Grundlage dieser Veränderungen und die Entstehung der Kultur und der Zivilisation. Aus dieser langen Reise in die Geschichte leitete er die Moral her und schrieb dann: »Dies ist nur eine theoretische Spekulation« ( Das Unbehagen in der Kultur, Bd. XIV, S. 459). Und: »Immerhin sind dies derzeit nur ungesicherte, von der Wissenschaft nicht erhärtete
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