Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
ein Wiener Aufsteiger, der sich schämte, nicht in die gute Wiener Gesellschaft aufgenommen zu werden. Gegen die um wissenschaftliche Fakten und klare Beweise bemühten Institutionen führte Freud eine außergewöhnliche Waffe ins Feld: ein unsichtbares und allmächtiges psychisches Unbewusstes. Kopernikus und Darwin verschwanden
am Horizont, als diese Mischung aus Kolumbus und Mesmer auf den Plan trat.
Freud konnte also nicht somatisch arbeiten, weil er dann immer wieder mit Weggefährten zu tun haben würde, die seine Leistungen nicht würdigten, und so entschloss er sich, auf dem Feld des Psychischen tätig zu sein. Hierzu brauchte er keine Geduld, keine wissenschaftliche Arbeitsgruppe, musste kein Schattendasein jenseits von Geld und Ruhm führen. Die Kühnheit, die er für sich in Anspruch nahm, würde ihm schnell weltweite Anerkennung, Berühmtheit und finanzielle Gratifikation zutragen.
So landeten die Arbeiten zur Sexualität der Aale und der Sektion von Kinderhirnen auf dem Speicher. Von nun an beschäftigte sich Freud mit dem Unsichtbaren, Ungreifbaren, Immateriellen, Unkörperlichen und nicht Wahrnehmbaren, nämlich mit dem Spirituellen. Entgegen einer hartnäckigen Legende, die Freud als materialistischen Denker darstellt (wo wären dann die einzelnen Atome des psychischen Unbewussten verortet?), rechnete der Philosoph und Autor von Das Ich und das Es sich zu den Idealisten, den Platonikern und Kantianern. Kants Transzendentale Ästhetik und Kritik der reinen Vernunft interessierten Freud, der Binswanger dazu befragte, als dieser vom 15. bis 26. Januar 1910 zum zweiten Mal in der Berggasse zu Besuch war.
Binswanger berichtete in seinem Tagebuch: »Ich hatte in dem betreffenden Gespräch angeknüpft an einen Ausspruch von ihm in der Mittwochssitzung ›Das Unbewußte ist metapsychisch, wir setzen es einfach real!‹ Dieser Satz sagt ja schon, daß Freud sich in dieser Frage bescheidet. Er sagt, wir gehen so vor, als ob das Unbewußte etwas Reales wäre, wie das Bewußte. Über die Natur des Unbewußten sagt Freud als echter Naturforscher [ sic ] nichts aus, eben weil wir nichts Sicheres davon wissen, vielmehr es nur aus dem Bewußten erschließen. Er meint, wie Kant hinter der Erscheinung das Ding an sich postulierte, so habe er hinter dem Bewußten, das unserer Erfahrung zugänglich ist, das Unbewußte postuliert, das aber nie Objekt direkter Erfahrung sein
könne.« (Freud/Binswanger, Briefwechsel, Anhang: Bericht über die gegenseitigen Besuche, S. 261) Und er urteilte: »Der Vergleich mit Kant scheint mir in den Einzelheiten nicht ganz zu stimmen.« (ebd.) Während eines dritten Besuchs in Wien am 17. und 18. Mai 1913 kam Freud auf das Thema zurück: »Freud fragte mich, ob nicht Kants ›Ding an sich‹ dasselbe sei wie das, was er (Freud) unter dem ›Unbewußten‹ verstehe. Ich habe dies lachend verneint und angedeutet, daß die Dinge auf ganz verschiedenen Ebenen liegen.« (ebd., S. 267)
Binswanger amüsierte sich zu Recht, insofern er Kant kantianisch las, doch Freud konnte Kant ausschließlich freudianisch lesen, so wie die Philosophen eben dazu neigen, ihre persönlichen Belange auf das Konzept des Dinges an sich zu übertragen, wie beispielsweise Nietzsche, der dieses Ding als durch den christlichen Spiritualismus verstärkten Avatar der platonischen Ideenwelt begriff, während Schopenhauer es zuvor als einen anderen Ausdruck seines Lebenswillens interpretiert hatte.
In der Tat zeigt die Lektüre von Die Welt als Wille und Vorstellung, dass der Wille und das Noumenon exakt das Gleiche bedeuten. Schopenhauer definierte den Willen klar und deutlich als »das eigentliche Ding an sich« ( Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweites Buch, § 29). Sein gesamtes Werk stützt sich auf diese Gleichsetzung: Die Welt als Wille entspricht Kants Ding an sich, das definitiv nicht erkennbare Noumenon der Welt als Vorstellung, die von den Sinnen und der Vernunft nie ganz erkannt werden kann, aber doch Gegenstand der Erkenntnis ist.
Dieser Dualismus bedeckt bei Schopenhauer auch den platonischen Ideenhimmel mit seinen der Erkenntnis nicht zugänglichen, durch die Vernunft höchstens erahnbaren Ideen sowie die materielle Welt, die an der Ideenwelt Anteil hat. Aus dem berühmten platonischen Höhlengleichnis wissen wir, dass der Philosoph alles ablegen muss, was der Vernunft im Wege steht, also seine ganz banale Materialität, und das Göttliche in sich, nämlich seine Seele, kultivieren muss, die aus der
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