Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
(ebd., S. 508) Freud lieferte also eine genaue Anleitung, um Neurosen abzuwenden: Man müsse einfach das Onanieren verhindern, und zwar, indem man offen über Sexualität spricht und das Problem öffentlich thematisiert – ein Vorhaben, das Freud zufolge noch hundert Jahre in Anspruch nehmen würde.
Unterdessen strebte der Seelendoktor nach Ansehen, Geld und sozialem Status, um in das gehobene Wiener Bürgertum aufzusteigen. Ursprünglich wollte er der Prophezeiung seiner Mutter nachkommen und reich und berühmt werden. Zwar hatte er länger studiert als andere, aber er hatte schließlich den Abschluss in Medizin erlangt. Die Karriere als Dozent verlief nicht zu seiner
Zufriedenheit, denn seine Kollegen mussten nicht so lange auf Beförderungen und die damit verbundenen Annehmlichkeiten warten wie er. Seine freiwillige Stilisierung zum Einzelkämpfer dürfte beim Wiener Bürgertum auf wenig Begeisterung gestoßen sein. Wer keinen Gemeinschaftssinn zeigt, macht sich der Eigenbrötlerei verdächtig. Doch auf Freud traf weder das eine noch das andere zu.
Im März 1897 stimmte das Habilitationskomitee endlich zu. Doch das Ministerium folgte der Entscheidung nicht, und Freud war empört, noch immer nicht außerordentlicher Professor geworden zu sein. Im Jahr 1900 wurde er bei einem hohen Beamten vorstellig, der ihm riet, seine Beziehungen spielen zu lassen. Freud nahm den Rat an. Seine ehemalige Patientin Elise Gomperz setzte sich erfolglos für ihn ein. Er wandte sich an eine andere Kundin, die Baronin Ferstel, die sich persönlich dem Minister gegenüber für den »Arzt, der sie gesund gemacht«, aussprach, wie er am 11. März 1902 an Fließ schrieb ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 502). Natürlich musste Freud dafür auch etwas tun und einem Museum, das der Minister plante, ein Bild schenken. Die Sache wurde umgehend in die Wege geleitet und Freud in kürzester Zeit zum Professor befördert. Er konnte vor Freude kaum an sich halten und erzählte dem Freund in Berlin, wie viel Befriedigung ihm dies verschaffe.
Die Ernennung war noch nicht offiziell, als er am 11. März 1902 an Fließ schrieb: »Es regnet auch jetzt schon Glückwünsche und Blumenspenden, als sei die Rolle der Sexualität plötzlich von Sr. Majestät amtlich anerkannt, die Bedeutung des Traumes vom Ministerrat bestätigt und die Notwendigkeit einer psychoanalytischen Therapie der Hysterie mit 2/3 Majorität im Parlament durchgedrungen.« (ebd., S. 503) Das war natürlich scherzhaft gemeint, doch der Autor von Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten wusste mehr als jeder andere um das Verhältnis von Scherz und lange unterdrückten Wünschen.
Freud war ganz begeistert von seinem neuen Status und bedauerte
Fließ gegenüber, dass er nicht früher entschieden hatte, »mit der strengen Tugend zu brechen und zweckmäßige Schritte zu tun, wie andere Menschenkinder auch.« (ebd., S. 501) Er tat, als sei er dazu bislang einfach nur zu dumm gewesen. Wie wir gesehen haben, hatte sich Freud bisher stets äußerst tugendhaft verhalten und erlebte nun erstmals das Unglück der Tugendhaftigkeit und das Glück der Intrige! Mit gespielter Naivität erklärte der Mann von sechsundvierzig Jahren gegenüber Fließ: »Ich habe gelernt, daß diese alte Welt von der Autorität regiert wird wie die neue vom Dollar. Ich habe meine erste Verbeugung vor der Autorität gemacht, darf also hoffen, belohnt zu werden. Wenn die Wirkung auf die ferneren Kreise so groß ist wie die auf die näheren, so dürfte ich mit Recht hoffen.« (ebd., S. 503) Zur Erinnerung, in der Traumdeutung schrieb Freud: »Ich bin, soviel ich weiß, nicht ehrgeizig« ( Die Traumentstellung, Bd. II/III, S. 142).
Freud war gekränkt, weil er nicht von den Funktionären unterstützt worden war, die er doch auf seiner Seite wissen wollte; es war ihm peinlich, dass er so lange auf seine Ernennung hatte warten müssen, und er war empört, dass die Gesellschaft der Ärzte sich so unkooperativ gezeigt hatte. Er kehrte der Medizin, Anatomie, Physiologie und Neurologie, den Arzneimitteln, dem Gehirn, dem Nervensystem und dem Labor also den Rücken, doch wie üblich tat er dies, weil ihm der Zugang verwehrt worden war und nicht aus einer erkenntnistheoretischen Motivation heraus. Mit goldener Feder schrieb er seine eigene Legende und verwandelte sein Scheitern in ein Erfolgserlebnis. So entstand die Ansichtskarte vom einsamen Helden, der von der Wissenschaft verkannt wurde. Doch dahinter verbarg sich
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