Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
die geringschätzige Äußerung gehört, man könne nichts von einer Wissenschaft halten, deren oberste Begriffe so unscharf wären wie die der Libido und des Triebes in der Psychoanalyse. Aber diesem Vorwurf liegt eine völlige Verkennung des Sachverhalts zugrunde. Klare Grundbegriffe und scharf umrissene Definitionen sind nur in den Geisteswissenschaften möglich, soweit diese ein Tatsachengebiet in den Rahmen einer intellektuellen Systembildung fassen wollen. In den Naturwissenschaften, zu denen die Psychologie gehört, ist solche Klarheit der Oberbegriffe überflüssig [ sic ], ja unmöglich.« (Bd. XIV, S. 84) Es folgen Überlegungen zur Unfähigkeit der Zoologie und der Botanik, Tier und Pflanze von Anfang an richtig zu definieren, sowie über die Tatsache, dass die Biologie im Jahr 1925 keine überzeugende Definition von Leben und die Physik lange keine exakten Beschreibungen von Materie, Kraft oder Gravitation habe liefern können. Die ehrenhaftesten Wissenschaften hätten sich einst im selben Embryonalstadium befunden wie die Psychoanalyse. Freuds performative Äußerungen entbanden ihn also von der riskanten Pflicht, Unbewusstes, Libido und Trieb klar definieren zu müssen.
Wie kann man aber die Grundlagen der Psychoanalyse begreifen, wenn Definitionen weder möglich noch denkbar sind? Schlagen wir das berühmte Vokabular der Psychoanalyse von Laplanche und Pontalis auf. Dort wird das Unbewusste als die große Entdeckung Freuds bezeichnet. Es bildet also das Zentrum der Psychoanalyse. Und doch kann man es nicht benennen, präzisieren oder klar definieren. In der Traumdeutung wird diese Unmöglichkeit sogar Teil der Theoriebildung, denn dort heißt
es, das Unbewusste sei das Verdrängte und selbiges per definitionem unsichtbar.
Obwohl das Unbewusste nicht definierbar ist, versuchte Freud, sich dazu zu äußern. Dabei sparte er nicht an Schemata mit Zahlen, Pfeilen, Bewegungsindikatoren und Parametern aus der Algebra (»Pc«, »Ics«, »S«, »S’«, »M«). Sie sollten den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit unterstützen und die Funktionsweise des psychischen Apparates kennzeichnen, in dessen Schatten das Unbewusste agiert. Wie in einem Marionettentheater hält es alle Fäden in der Hand, doch wie die Puppen genau aussehen, wird nicht erklärt. Freud schrieb dazu in der Traumdeutung: »Es wäre natürlich müßig, die psychische Bedeutung eines solchen Systems in Worten angeben zu wollen.« ( Psychologie der Traumvorgänge, Bd. II/III, S. 544) Und weil die Worte müßig wären, gab es eben keine Beweise. Der Leser sollte den Worten Glauben schenken.
Nach der schematisch-algebraischen Darstellung bediente sich Freud zur Beschreibung der Funktionsweise des psychischen Apparates einer Metapher aus der Fotografie – mit der Begründung, er wolle »der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen.« (ebd., S. 541) So wählte er einen Vergleich: »Die psychische Lokalität entspricht dann einem Orte innerhalb eines Apparats, an dem eine der Vorstufen des Bildes zustande kommt. Beim Mikroskop und Fernrohr sind dies bekanntlich zum Teil ideelle Örtlichkeiten, Gegenden, in denen kein greifbarer Bestandteil des Apparats gelegen ist.« (ebd.)
Wir haben es also mit einem nicht klar begrenzten Raum zu tun, einem atopischen Ort, an den wir ohne Beweise glauben sollen. Müssen wir uns damit zufrieden geben? Nein. Denn im Gesamtwerk gibt es einige Hinweise auf die mögliche Gestalt dieses Phänomens. Sie sind verstreut und fragmentarisch, aber zusammengesetzt liefern sie wenigstens ein impressionistisches, wenn nicht gar pointillistisches Bild des Unbewussten. Wir erfahren dadurch nicht, was es ist, aber doch, was es beinhaltet. Selbst wenn
der Inhalt nicht zur Definition des Beinhaltenden beitragen kann, könnten wir auf diese Weise vielleicht etwas mehr über das Unaussprechliche erfahren als durch irgendwelche Schemata mit unbekannten Parametern. Vielleicht sollten wir auch Fotoapparate oder Teleskope aufschrauben und darin nach einer unsichtbaren schwarzen Kammer suchen.
Den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse zufolge gibt es einen phylogenetischen Bodensatz, der über alle Zeiten weitergegeben wird und bis zu den Anfängen der Menschheit zurückreicht. Das primitive Unbewusste war in der Psyche von Freuds Zeitgenossen also immer noch aktiv. Was haben unsere Ahnen uns hinterlassen? Den Ödipuskomplex natürlich. Doch diese
Weitere Kostenlose Bücher