Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
»Gedächtnisspuren« über Vatermord, Kannibalismus, Kastrationsangst und so weiter darf man sich – anders als gewöhnliche Erinnerungen – nicht wie Bilder oder gar einen Film vorstellen. Es sind Erinnerungen ohne Bilder oder Formen, eher gewisse Kräfte, die aber nicht messbar sind; Affekte, die im Triebleben agieren.
Zeitgemäßes über Krieg und Tod lehrt uns – natürlich weiterhin in rein performativer Weise –, dass das Unbewusste nichts vom Tod wisse: »[W]ie verhält sich unser Unbewußtes zum Problem des Todes? Die Antwort muß [ sic ] lauten: fast genau so wie der Urmensch. In dieser wie in vielen anderen Hinsichten lebt der Mensch der Vorzeit ungeändert in unserem Unbewußten fort. Also unser Unbewußtes glaubt nicht an den eigenen Tod, es gebärdet sich wie unsterblich.« (Bd. X, S. 350)
Und doch sagt Freud schon auf der nächsten Seite, immer noch performativ: »[U]nser Unbewußtes mordet selbst für Kleinigkeiten« (ebd., S. 351), wünsche es doch den Tod aller, die sich ihm in den Weg stellen. Es kann also den Tod wollen und ihn doch nicht kennen, es kann etwas ihm völlig Unbekanntes anstreben – wahrscheinlich dank der wunderbaren Tatsache, dass ihm Widersprüche gleichermaßen unbekannt sind.
Das trifft sich gut, denn Freud sagte über das Unbewusste auch: »Gegensätze fallen in ihm zusammen« (ebd., S. 350). Man kann über das Unbewusste also nichts aussagen und doch alles sagen, auch Widersprüchliches, hat es doch einen außergewöhnlichen epistemologischen Status. Gewöhnlich wird die Vernunft durch die Logik bestimmt, beispielsweise durch das Prinzip der Widerspruchsfreiheit, doch das Unbewusste – das Freud zufolge selbst auf sehr strukturierte Weise agiert – muss sich um derlei Trivialitäten nicht kümmern.
In Jenseits des Lustprinzips erörtert Freud, inwiefern das Unbewusste bewusst werden wolle – auch dies eine jener typisch performativen Äußerungen, zu denen Freud stets neigte. Im »Ics« herrsche das Lustprinzip: Das Unbewusste wolle frei agieren, sich unbegrenzt ausbreiten, seine hedonistischen Kräfte zur Entfaltung bringen. Entsprechend versuche es auch, jede Enttäuschung zu vermeiden. Doch es unterliege dem Realitätsprinzip, das es zur Verdrängung zwinge. Nicht die Triebe würden unterdrückt, sondern das Streben des Unbewussten. Das Ich und das Es beschreibt, erneut einer performativen Strategie folgend: »Das Verdrängte ist uns das Vorbild des Unbewußten.« (Bd. XIII, S. 241) Und mit derselben erkenntnistheoretischen Kühnheit wird ergänzt: »Wir sehen […], daß wir zweierlei Unbewußtes haben, das latente, doch bewußtseinsfähige, und das Verdrängte, an sich und ohne weiteres nicht bewußtseinsfähige.« (ebd.) Das latente Unbewusste nennt Freud Vorbewusstes; das eigentliche Unbewusste wird auf das Verdrängte eingegrenzt.
Ein weiteres rhetorisches Kunststück garantiert, dass das mysteriöse Unbewusste nicht in sich zusammenfällt: Wenn es letztlich doch zugänglich ist, verliert es eben den Status des Unbewussten und tritt in eine neue Kategorie über, die Freud als »Pcs« markiert. Der sophistische Trick besteht darin, zu sagen, man könne das Unbegreifliche auf mindestens zwei Arten doch begreifen, nämlich entweder dynamisch oder deskriptiv. Der von Freud hier eingeführte Aspekt der Dynamik schließt praktischerweise das
Verschwinden dessen mit ein, was unauffindbar bleiben muss, obwohl ihm weiterhin eine Allmacht zugeschrieben wird.
In Abriß der Psychoanalyse rekapituliert Freud, dass anstelle der ersten, aus der Traumdeutung (1900) stammenden Topik von »Ics«, »Pcs« und »Cs« eine zweite trat, die 1923 in Das Ich und das Es vorgestellt wurde. Sie bot neue Perspektiven auf das altbekannte Unsichtbare, das nur durch Schattenwürfe, Metaphern oder Allegorien Erahnbare. Abriß der Psychoanalyse, Freuds unvollendetes theoretisches Testament, das ein halbes Jahrhundert Arbeit bilanziert, enthält einige überraschende Überlegungen, die Freud zuvor nur selten geäußert hatte. So sei die zweite Topik mit Es, Ich und Über-Ich metaphorisch zu verstehen und biete neue Möglichkeiten für die Psychologie: »Dieses allgemeine Schema eines psychischen Apparates wird man auch für die höheren, dem Menschen seelisch ähnlichen Tiere gelten lassen.« ( Abriß der Psychoanalyse, Bd. XVII, S. 69)
Schon in Das Unbewußte hatte Freud geschrieben: »Wenn es beim Menschen ererbte psychische Bildungen, etwa dem Instinkt der Tiere Analoges
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