Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Festung voller Geheimnisse. Und doch genügt ein schief angenähter Knopf, ein verlorener Ehering, ein zerbrochener Gegenstand, ein verlorener Hausschlüssel, eine falsche Adresse auf dem Briefumschlag, falsch abgezähltes Wechselgeld, ein mit Toastbrot gemachtes Fleischklößchen, ein Schlüsselbund, an dem man herumfingert, ein Kalauer, ein verpasster Zug, eine zufällig ausgewählte Zahl, ein Traum über Harnfluss und zahllose andere kleine Dinge, um die Festung zu bezwingen und sich ihre Geheimnisse zu
erschließen. Wir haben es mit einem furchterregenden, unsichtbaren Ding an sich zu tun. Der Gott namens Unbewusstes versteckt sich im Noumenon, aber der Teufel lauert im phänomenologischen Detail. Die Psychoanalyse macht sich unter der schwarzen Sonne dieses Gottes zum Weggefährten des Teufels.
V.
Wie man dem eigenen Körper den Rücken kehrt
»Unsere psychische Topik hat vorerst [ sic ] nichts
mit der Anatomie zu tun.«
Sigmund Freud, Das Unbewußte (Bd. X, S. 273)
Freuds Verleugnung des Körperlichen war nicht ohne die Rückkehr des Verdrängten zu machen – um es mit seinen Worten auszudrücken. Denn die Abwendung vom Körper bedeutete die Hinwendung zu einem Noumenon des psychischen Unbewussten, das von der kritischen Vernunft abgeschnitten war. Doch Freud konnte den Körper, das Fleisch, das Materielle unserer Existenz nicht einfach mit einem Federstrich negieren. Mochte er noch so viele Hypothesen aufstellen, sprachliche Sicherheitsnetze konstruieren, mochte er in Theorie und Praxis noch so viele Fehlentscheidungen begehen, sich noch so vieler Metaphern, Bilder und Fiktionen bedienen oder mit kantianischen Konzepten um sich werfen – im tiefsten Innern wusste er stets, dass es am Ende der Körper ist, der spricht, und nicht die Sprache. Denn sprechende Sprache ist eine Tautologie.
Als Freud in Das Ich und das Es die zweite Topik entwickelte, sprach er vom »Keimplasma« und ließ auf diese Weise etwas von dem durchblicken, was er verdrängte. Die Topiken dienten ihm als Raummetaphern, mit denen er das unbeschreibliche Unbewusste in Worte zu fassen versuchte. Immer wenn eine bestimmte Stilfigur besonders aussagekräftig schien, wechselte er sie absichtlich – er nahm seine Metaphern wohl nicht besonders wichtig. Greifen wir dieses dialektische Prinzip auf und perspektivieren damit eine Zeit nach Freud, in der bewahrt und zugleich überwunden
wurde, was die Psychoanalyse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachte.
Ein Gedanke aus der Traumdeutung lautet: »Selbst wo das Psychische sich bei der Erforschung als der primäre Anlaß eines Phänomens erkennen läßt, wird ein tieferes Eindringen die Fortsetzung des Weges bis zur organischen Begründung des Seelischen einmal zu finden wissen. Wo aber das Psychische für unsere derzeitige Erkenntnis die Endstation bedeuten müßte, da braucht es darum nicht geleugnet zu werden.« ( Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme, Bd. II/III, S. 45) Mit anderen Worten: Freud beanspruchte hier für seine Lehre eine punktuelle Wahrheit und wartete unterdessen – im Futur, nicht im Konditional – auf die »organische Begründung des Seelischen«.
Das performativ erschaffene psychische Unbewusste ist möglicherweise nur ein provisorischer Begriff, der durch zukünftige Entdeckungen bald überholt sein könnte. Freud erwartete diese Entdeckung nicht etwa auf dem Gebiet seiner eigenen Entwicklung, der Psychoanalyse, sondern im Bereich des Somatischen. Ist das Unbewusste nur eine temporäre Hypothese in Erwartung einer wirklich wissenschaftlichen Entdeckung? Achtunddreißig Jahre später bekräftigte er diese in der Traumdeutung (1900) entwickelte These in Abriß der Psychoanalyse, wo er kundtat, die Chemie könne die Psychoanalyse eines Tages überflüssig machen. Eine »organische Begründung« des psychischen Apparats, dessen Krankheiten man mit »chemischen Substanzen« heilen kann? Mit dieser Dialektik erlangt Freuds Arbeit historischen Rang.
Tragen wir noch einmal jene Äußerungen zusammen, in denen Freud das Unbewusste nicht als unbegründeten Grund – wie einen aristotelischen Gott – oder unbewegten Beweger begreift, sondern als in Bewegung begriffenes Phänomen. Doch von wem oder wovon wird es bewegt? Von dem berühmten »Keimplasma«, das überall in Freuds Werk auftaucht. Freud hatte den Begriff bei dem Biologen August Weismann (1834–1914) entliehen,
dem wir auch die Ansicht verdanken, erworbene Charakterzüge
Weitere Kostenlose Bücher