Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
mit Leib und Seele den Fiktionen, Ideen und Noumena und zeigte dabei großes philosophisches Talent. Er verfasste ein Monumentalwerk, das sich mit den Veröffentlichungen Kants, Hegels, des großen deutschen Idealisten Schelling und der Romantiker vom Schlage eines Novalis messen kann.
Wie ein Kind, das in seiner eigenen Welt lebt, erfand Freud eine magische Sphäre voller Fiktionen, die viel angenehmer waren als die beunruhigende Wirklichkeit der Erwachsenenwelt. Wie Lewis Carrolls Alice trat er auf die andere Seite des Spiegels und amüsierte sich mit seinen Fantasiefiguren namens Libido, Trieb, Unbewusstes, Ödipus, Urhorde, Vatermord, Verdrängung, Sublimierung, Moses, Neurose oder Psychopathologie – um nur die größten Stars in diesem philosophischen Zauberzirkus zu nennen.
Freud hatte eine magische Beziehung zur Wirklichkeit: In seiner Welt gab es keinen Krebs, keine Gazestreifen, keine Morphinabhängigen, keine Tumore der Gebärmutter oder falsche Medikationen. Stattdessen begegneten ihm hier monströse Väter, begehrenswerte Mütter, Inzestwünsche, Mordgelüste, Masturbationsdrang, verrückte Gebärmütter, kopulierende Eltern, onanierende
Säuglinge, kannibalische Festmahle, verschlüsselte Träume, geprügelte Kinder und ein Sammelsurium sexueller Themen, das bei ihm, der sich Behauptungen über die eigene Pansexualität verbat, großes Entsetzen hervorrief.
Diese Zauberwelt wäre bedeutungslos geblieben, hätte Freud sich nicht in den Kopf gesetzt, ihre Gesetzmäßigkeiten auf die gesamte Menschheit zu übertragen und jeden zu geißeln, der ihr die Wirklichkeit vorzog. Es spielt im Grunde genommen keine Rolle, ob sich jemand eine eigene Welt erschafft und sich lieber dort als in der Realität aufhält, in der er sich als Außenseiter fühlt. Künstler – wie Freud einer war – halten ihre Wünsche oft sogar für die Realität, und niemand nähme es etwa einem Musiker übel, wenn er die Welt nur auf seine Weise hörte und nicht so wie alle anderen; niemand kritisierte einen Maler, der nur mit seinen Augen sieht und nicht mit den Augen der anderen.
Doch Freud gab sich mit seiner Fantasiewelt nicht zufrieden. Er brachte viele andere dorthin und wollte schließlich die ganze Menschheit hinüberführen. Jeden, der sein Theater nicht gegen die Wirklichkeit eintauschen wollte, bezichtigte er der Neurose, Krankheit, Verdrängung oder anderer schwerer psychischer Probleme. Für den Übertritt ins Wunderland erfand er sogar ein eigenes Dispositiv: die Couch. Das durch Freud zum Konzept gewordene Möbelstück wird auch heute noch von Psychoanalytikern als Zugang zur Zauberwelt benutzt, in der die freudschen Kreaturen warten.
Doch selbst das wäre kein Problem, wenn es dabei um eine Reise ginge, wie man sie durch ein Bild, eine Oper, einen Roman, ein Gedicht, einen Film, eine Fotografie oder einen Stich unternimmt. Doch Freud behauptete, wer sich mit ihm auf die Reise mache, werde von Neurosen, Psychosen, Nervenkrankheiten, Hysterie, Angst, Phobien und anderen seelischen Erkrankungen geheilt. Ein solches Therapieversprechen setzt den Glauben voraus, dass der Übertritt in die andere Welt Gesundheit, Seelenfrieden und das Ende aller psychischen Krankheiten ermöglicht.
Freud bot in seiner Wiener Praxis gewissermaßen an, den Realitätsverlust durch eben diesen Realitätsverlust zu heilen. Es ging um eine Flucht in die fiktive Welt, die dem Jenseits ähnelte, das in der Religion die tatsächliche Welt erträglicher machen soll. Für jemanden, der gesehen hatte, wie die eigenen Eltern Geschlechtsverkehr haben, wie der eigene Vater verzehrt wird, wie ein Säugling sich den Zeigefinger in den Anus steckt oder ein Vater die Kinderfrau penetriert, konnte natürlich alles nur besser werden. Können wir Freud jetzt noch als Aufklärer bezeichnen? Wohl kaum.
Freuds Zauberwelt unterscheidet sich grundlegend von einem Universum, in dem die voltairesche Vernunft regiert. Nicht jeder, der gern ein Nietzsche wäre, ist auch einer. Die Legende will Freud in der Tradition der großen Aufklärer sehen, denen die Menschheit die Befreiung von Mythen und Märchen zu verdanken hat. Dabei berief sich Freud wiederholt auf Volksweisheiten, Mythen und Okkultismus, worüber sein Text Psychoanalyse und Telepathie höchst instruktiv Auskunft gibt. Freud wollte natürlich nicht Farbe bekennen und drückte sich vorsichtig aus, doch in der scheinbar neutralen und objektiven Analyse erwähnte er wie nebenbei gewisse
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