Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
so etwas könne schließlich jedem passieren. Über das Opfer verlor er kein Wort. In einem Brief vom 23. März 1895 kam er noch einmal auf die Angelegenheit zurück, nachdem eine erneue Operation nötig geworden war. »Es war nichts und wurde nichts getan« (ebd., S. 122), schrieb er lakonisch und fügte hinzu: »[E]s bleibt ihr jede Entstellung erspart.« (ebd.) Emmas Nichte jedoch, eine Kinderärztin, konnte das nicht bestätigen und berichtete von Emmas Entstellung und ihrer eingesunkenen Gesichtshälfte.
In einem Brief vom 28. März 1895 ging Freud erneut zum Angriff über. Er war beschämt darüber, sich erbärmlich gefühlt zu haben, ärgerte sich, dass Emma ihn als inadäquaten Vertreter des starken Geschlechts hingestellt hatte, und reagierte aggressiv: »Natürlich beginnt sie mit der Neubildung von Hysterien aus diesen Zeiten, die dann von mir zersetzt werden.« (ebd., S. 123) Er vermied jedes Wort über Emmas verletzten Körper, ihr entstelltes Gesicht und die gescheiterte Operation, indem er auf die These von der Hysterie zurückgriff.
Ein Jahr später war Freud immer noch beleidigt und wurde noch deutlicher. Am 26. April 1896 schrieb er an Fließ: »Ich werde Dir nachweisen können, daß Du recht hast, daß ihre Blutungen hysterische waren, aus Sehnsucht erfolgt sind und wahrscheinlich zu Sexualterminen. (Das Frauenzimmer hat mir aus Widerstand die Daten noch nicht besorgt.)« (ebd., S. 193) Klar und deutlich zeigt sich hier, welchen Mechanismen Freuds Verhalten folgte: Die Operation war gescheitert, das Stück Gaze vergessen, die Wunde infiziert, vereitert und blutig, doch all dies war bedeutungslos. Die wahre Ursache des Problems lag in Emmas sexuellem Verlangen nach Sigmund – und in nichts anderem. Es handelte sich um einen einfachen Fall von verdrängter sexueller Anziehung.
Am 4. Mai 1896 legte Freud nach und verkündete, »daß sie aus Sehnsucht geblutet hat.« (ebd., S. 195) Erschwerend kam hinzu,
dass Emma Eckstein bereits unter normalen Umständen stark blutete. Als sie sich im Kindesalter geschnitten habe, sei die Blutung sehr stark gewesen. Die Kopfschmerzen während ihrer ersten Regelblutung seien als Folge der Suggestion zu betrachten. Freuds weitere Äußerungen wären lächerlich, wenn sie nicht so erbärmlich wären. Demnach begrüßte Emma »die heftigen Periodenblutungen mit Freude als Beweis für die Echtheit ihres Krankseins, der ihr auch gelten gelassen wurde.« (ebd.)
Emmas Wunsch, zu bluten, entsprach dieser Logik zufolge ihrer Begierde für den unwiderstehlichen Doktor Freud. Und deshalb war nach der Entdeckung des Gazestücks bei Freuds Rückkehr in das Zimmer ihr Blutdruck gefallen. Nicht etwa wegen des Blutverlusts, sondern weil sie »einen alten Wunsch nach Liebe in Kranksein verwirklicht« sah und sich, kurz vor der Bewusstlosigkeit, »so glücklich wie nie« (ebd., S. 196) gefühlt hatte! Der Gedanke, dass ein Blutdruckabfall zur Bewusstlosigkeit führen könnte, war Freud offensichtlich nicht gekommen. Er hielt an seiner Fantasievorstellung fest und brachte jede Erkrankung mit der sexuellen Ätiologie in Verbindung.
Emma Eckstein verließ das Krankenhaus noch am selben Abend und ging in ein Erholungsheim. Sie schlief schlecht, vielleicht aus Angst oder Stress. Denken wir nicht darüber nach, denn Freud hatte einen klinisch viel überzeugenderen Grund identifiziert. Demnach entstammte die nächtliche Unruhe »der unbewußten Sehnsuchtsabsicht, mich hinzulocken, und als ich nachts nicht kam, erneuerte sie die Blutungen, als unfehlbares Mittel, meine Zärtlichkeit wieder zu wecken.« (ebd.) Sie blutete dreimal spontan über vier Tage hinweg, sodass Freud zu dem Schluss kam, dies müsse »eine Bedeutung haben« (ebd.).
Zehn Jahre später, als Vierzigjährige, litt Emma Eckstein immer noch. Ihr Gesicht war dauerhaft entstellt, doch Freud diagnostizierte einen Rückfall in die Hysterie und riet ihr, die Psychoanalyse wieder aufzunehmen. Sie lehnte ab und wandte sich an eine junge Ärztin, die ihr einen großen Abdominalabszess entfernte.
Einige Jahre später erhielt Emma endlich eine seriöse Diagnose: Man erkannte ein Myom und entnahm ihr die Gebärmutter. Myome sind gutartige Tumoren des Muskelgewebes, die wahrscheinlich die Ursache für Emmas Blutungen seit der Jugendzeit gewesen waren.
Entstellt und bettlägerig starb Emma Eckstein 1924 an einem Hirnschlag. 1937 behauptete Freud, sie sei erfolgreich psychoanalytisch behandelt worden, und ihr Rückfall in die
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