Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
war, der die Philosophie ablehnte, um sein eigenes philosophisches Denken besser entwickeln zu können; wenn er die Biographen schon früh hasste, weil er wusste, dass sie eines Tages aufdecken würden, was er und seine Freunde jenseits der Legende tatsächlich getrieben hatten; wenn er wirklich ein »Abenteurer« war, zu allem bereit, um zu seinem Recht – so empfand er es – auf Ruhm und Reichtum zu gelangen; wenn hinter seinem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nur eine subjektive, persönliche und autobiographische literarische Psychologie stand; wenn seine große Leidenschaft dem Inzest galt und er seine Fantasie auf das gesamte Universum ausdehnte, um sie besser ertragen zu können; wenn er die Beweise für sein Chaos in Theorie und Praxis vertuschte und seine Entdeckung als nur dem eigenen Genius entsprungene, lineare wissenschaftliche Weiterentwicklung darstellte; wenn seine autobiographischen Texte, vor allem »Selbstdarstellung« und Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, diese Legende verbreiteten; wenn die freudsche Klinik jahrelang ein Ort der Wunder war; wenn Freud wissentlich klinische Ergebnisse fälschte, um analytische Misserfolge zu verbergen; wenn die Behandlung auf der Couch nicht mehr als eine Placebowirkung hatte; wenn Freuds Epistemologie tatsächlich rein performativ war; wenn Freud den tradierten Leib-Seele-Dualismus der abendländischen Philosophie in Gestalt des Keimplasmas und des Unbewussten wiederaufbereitete (und zwar nur, um das Erste zugunsten des Zweiten zu vernachlässigen); wenn er, vor allem in
seiner Symboltheorie, die magische Kausalität der Vernunft vorzog; wenn er sich mit einer zeitgenössischen Version von Hexerei, Magie, Heilkunst oder Exorzismus begnügte; wenn er der Aufklärung pessimistisch den Rücken kehrte und in die Fußstapfen der Gegenphilosophen trat; wenn er aus diesem Grund den autoritären Cäsarismus von Dollfuß oder Mussolini unterstützte; wenn sein Werk phallokratisch, misogyn und homophob ist, anstatt die sexuelle Befreiung zu fordern – wenn also all dies zutrifft, wie ist dann der bereits ein Jahrhundert andauernde Erfolg Freuds, seiner Lehre und der Psychoanalyse zu erklären?
Auf diese Frage gibt es nicht eine, sondern mehrere mögliche Antworten. Die Antworten, zu denen ich in der Lage bin, können das Thema nicht umfassend behandeln, denn dazu müsste ich einen zweiten Band zu diesem Buch schreiben.
Der erste Grund für den Erfolg ist, dass Freud der Erste war, der den Sex in das abendländische Denken integrierte. Das christliche Europa hatte ihn ein Jahrtausend lang verdrängt und Jesus engelsgleichen, Christi geschundenen und Marias Mutter- und Jungfrauenkörper (!) als Modelle benannt. So hatte es neurotische Körper produziert und förmlich dazu eingeladen, echte psychische Störungen zu entwickeln, die eine sexuelle Ätiologie der Neurosen rechtfertigten.
In diesem Zusammenhang ist Freuds revolutionärster Text ohne Zweifel Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, denn hier unterzog er die Sexualität einer philosophischen Analyse. Tatsächlich hatte die abendländische Philosophie den Sex bewusst ausgespart; allein die Geschichte dieser Verdrängung und bewussten Verleugnung bietet Stoff für ganze Nachschlagewerke. Der Sensualismus und der Materialismus der Antike mussten der platonischen Entmaterialisierung der Körper weichen; die Fleischeslust der Heiden wurde durch den christlichen Geist und den gequälten Körper Christi ersetzt; der Großteil der abendländischen Philosophie konzentrierte sich auf die intelligible Welt, die
res cogitans und das Noumenon und wandte sich von der Gefühlswelt, der res extensa und der materiellen Welt ab. Das moderne phänomenologische, strukturalistische und neukantianische Denken folgte dieser Tradition. So blieb die Sexualität das große Unaussprechliche des christlichen Abendlandes – obwohl sie ihm sogar seine Struktur gibt!
Tauchte die Sexualität je in der Philosophiegeschichte auf, so wurde sie gefriergetrocknet, verändert, entstellt, theoretisiert und auf jede nur denkbare Weise vom Körper, vom Fleisch und vom Sex gelöst. Zu manchen Zeiten erschien sie als Rückkehr des Verdrängten und in radikaler Opposition zum christlichen Modell – so etwa bei de Sade oder Georges Bataille, zwei Neognostikern, die den Körper anders als die Christen nicht als sündig betrachteten. Zwischen Jacobus de Voragines Legenda aurea, de Sades 120 Tagen von Sodom und Batailles Madame
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