Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
schiere Größe jede Kritik im Keim erstickt.
Jenseits von Gut und Böse, weder lachend noch weinend und mit dem Wunsch, zu verstehen, stellte Freud sich im Gefolge Gustave Le Bons eine ahistorische Wirklichkeit vor, die zu Urzeiten schon genauso aussah wie zu der Zeit, als Freud seine Texte schrieb und seine Argumente entwickelte. Und sie würde auch in Zukunft und solange es Menschen gebe stets dieselbe sein. Denn Freud glaubte an die transzendentale Wahrheit seiner Behauptungen.
Diese ontologische und metaphysische Position machte eine optimistische politische Haltung unmöglich. Im 18. Jahrhundert gingen die Gegenphilosophen von einer Kollision von tragischem Pessimismus mit autoritärer Politik aus. Damals bedeutete das das Aufeinandertreffen von der Ursünde mit einer Monarchie von Gottes Gnaden; zu Freuds Zeit waren es der schicksalshafte Todestrieb und die Notwendigkeit eines charismatischen Führers, der ihn politisch zu kanalisieren in der Lage war.
Fassen wir zusammen: Die Massen brauchen einen Führer, der sie lenkt; der Todestrieb ist naturgegeben und unüberwindbar; die Gesellschaft soll sich nicht hedonistisch ausrichten, sondern möglichst gleichförmig organisieren; der Mensch ist von Natur aus böse und kann durch keine Revolution zum Guten geändert werden; das Ideal wäre, eine gebildete Elite an der Spitze der Massen zu haben; Krieg ist unvermeidlich; die ontologischen Fundamente und die optimistische Teleologie des Marxismus-Leninismus sind falsch; dennoch ist der Bolschewismus vielleicht in
der Lage, große Männer hervorzubringen, brutale Übermenschen ohne Skrupel, mit denen man die Massen steuern kann.
Am 2. März 1937 schrieb Freud an Ernest Jones: »Unsere politische Situation scheint sich immer mehr zu trüben. Das Eindringen der Nazis ist wahrscheinlich nicht aufzuhalten, die Folgen auch für die Analyse sind unheilvoll […]. Leider scheint unsere bisherige Schutzmacht – Mussolini – Deutschland jetzt freie Hand zu lassen.« (Freud/Jones, Briefwechsel, S. 102 f)
Wir müssen also davon ausgehen, dass Freud Mussolini 1937 noch immer als Beschützer betrachtete.
In der Zeit seit der Widmung hatte Mussolini mit chemischen Waffen Kriegsverbrechen in Äthiopien begangen, hatte Krankenhäuser bombardieren und Zivilisten massakrieren lassen und einen Vertrag mit Hitler zur Unterstützung Francos im Spanischen Bürgerkrieg geschlossen. Doch Freud verlor kein schlechtes Wort über ihn, und eine Faschismuskritik als Pendant zur Kritik am Marxismus-Leninismus sucht man bei ihm vergeblich.
Als Jude konnte Freud natürlich nicht mit dem Nationalsozialismus übereinstimmen. Mussolinis autoritärer Cäsarismus und Dollfuß’ Austrofaschismus passten jedoch perfekt zu seiner These, der Mensch sei ein »Herdentier, dahin zu korrigieren, er sei vielmehr ein Hordentier, ein Einzelwesen einer von einem Oberhaupt angeführten Horde.« ( Massenpsychologie und Ich-Analyse, Bd. XIII , S. 135) Um aus dem von den Nazis besetzten Österreich flüchten zu können, suchte Freud Hilfe bei Eduardo Weiss, dem Freund Mussolinis, der ihn um die Widmung gebeten hatte. Er brauchte ein vom Diktator autorisiertes Visum, doch der »Held der Kultur« ließ sich zu keiner Reaktion herab.
Und erst in dieser Situation schrieb er in Der Mann Moses und die monotheistische Religion Sätze wie diesen: »Mit ähnlicher Gewalttätigkeit [wie das sowjetische] wird das italienische Volk zu Ordnung und Pflichtgefühl erzogen.« (Bd. XVI, S. 157) Ein paar Zeilen weiter sagte derselbe Freud, dass »die Institution
der katholischen Kirche der Ausbreitung jener kulturellen Gefahr eine kräftige Abwehr entgegensetzt. Sie, bisher die unerbittliche Feindin der Denkfreiheit und des Fortschritts zur Erkenntnis der Wahrheit!« (ebd.) In einem zweiten Vorwort, das im Juni 1938 in London entstand, kam Freud nochmals auf die Kirche als Institution des Widerstands zurück. Ernest Jones bezeichnete Freud in seiner Biographie einmal als schlechten Menschenkenner.
Vielleicht blieb Freud deshalb so lange im nazistischen Österreich. Obwohl viele jüdische Analytiker um das Risiko wussten und ins Exil gingen, glaubte Freud nicht, dass ihm etwas geschehen könnte – er meinte wahrscheinlich, er sei zu berühmt. Seine beiden Söhne verließen das Land. Am 10. Mai 1933 fand eine große Bücherverbrennung statt, bei der Werke von Linken, Marxisten und Juden vernichtet wurden. Unter den Büchern großer Geister der Literatur, der
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