Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
mit Adler und dessen Anhängern, die zugunsten Jungs und der Jungianer ausgeschlossen wurden. In Weimar feierten Freud und Jung am 21. und 22. September 1911 ihre geistigen Flitterwochen, doch schon im September 1913 kam es in München zum Bruch. In Budapest ging es 1918 um Kriegsneurosen und kostenlose psychoanalytische Behandlungen, doch man verfolgte das Thema nicht
weiter. Beim Kongress in Den Haag vom 8. bis 11. September 1920 scharten sich Analytiker aus kurz zuvor noch verfeindeten Ländern um Freud und dessen Tochter. Bei der Zusammenkunft in Berlin vom 23. bis 27. September 1922 zweifelte eine Frau namens Karen Horney Freuds Theorie des Penisneids an. 1925 musste der Kongress ohne Freud stattfinden, weil dieser zu stark unter seiner Krebserkrankung litt. Er schickte stattdessen Tochter Anna nach Bad Homburg, die dort seinen misogynen Text vortrug. Außerdem sprach Max Eitington über die Aufnahmebedingungen an den psychoanalytischen Instituten, über didaktische Analyse und die Ausbildung der Analytiker. Auch 1929 in Oxford vertrat Anna ihren Vater, der ihr zuvor geraten hatte, Jones nicht so ernst zu nehmen, und sich glücklich darüber zeigte, dass Anna diesen nicht geheiratet hatte. 1932 kam es in Wiesbaden zum Bruch mit Ferenczi, den Freud auf dem Papier ermordete, indem er ihn für krank erklärte. In Paris trug Anna 1938 einen Auszug aus Freuds Moses-Analyse vor; 1939 starb der Gründervater.
Das Netzwerk funktionierte weltweit und war in sehr kurzer Zeit entstanden. Auf den Kongressen trafen sich jedes Mal knapp hundert Analytiker. Beim ersten Kongress 1910 in Nürnberg schlug Ferenczi die Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) vor, deren erster Präsident Jung wurde. Hundert Jahre später, 2010, ist die IPV in achtunddreißig Ländern vertreten und hat 11 000 Mitglieder. Die Psychoanalyse ist heute Teil des kollektiven Bewusstseins. Wir erinnern uns, dass die Psychologische Mittwochsgesellschaft 1902 nur sechs Mitglieder hatte.
Der dritte Grund für den Erfolg ist die Ähnlichkeit der Psychoanalyse mit einer Religion. Die Psychoanalyse bietet eine umfassende Weltsicht, Antworten für jeden und mit dem Unbewussten ein Konzept, unter das man alles subsumieren kann, was auf dieser Erde war, ist und sein wird. Sie funktioniert wie eine Ersatzmetaphysik in einer Welt ohne Metaphysik. Der Erste Weltkrieg
hatte alle ethischen, moralischen und religiösen Verbindlichkeiten aufgelöst, und nun bot die Psychoanalyse die Möglichkeit, eine Religion in einer nachreligiösen Zeit zu begründen. Je bekannter Freuds Werk wurde, umso mehr übernahm es die Funktion eines Katechismus, einer Vulgata, aus der das entstand, was Robert Castel so treffend den Psychoanalysmus nannte.
Die orthodoxen Gefolgsleute der Psychoanalyse konstruierten sie nach dem Muster der christlichen Religion, und so wurde auch Freuds Biographie – ähnlich der von Ernest Jones – der christlichen Legende über das Leben Jesu nachgebildet. Einige Beispiele: Jesus war schon bei der Geburt vom Heiligen Geist auserwählt worden. Freud wurde der Legende nach mit einer Glückshaube geboren, eine Wahrsagerin prophezeite ihm eine außergewöhnliche Zukunft, die von einem Dichter in einem Café im Prater bestätigt wurde. Die Berufung sei nach der Lektüre von Goethes Die Natur wie die Feuerzungen des Heiligen Geistes auf ihn herniedergekommen. Die Begegnung mit Charcot ist der Begegnung mit Johannes dem Täufer vergleichbar, und wie Jesus habe Freud zur rechten Zeit der Sexualität entsagt, um seine ganze Kraft der Schöpfung seines Werkes zu widmen. Askese wird als konstitutiv für das Genie dargestellt; ähnlich konstruiert sind auch der Rückzug in die Wüste und die Initiationsprüfung in Gestalt des Todes des Vaters, gefolgt von der Selbstanalyse, die von allen Hagiographen als außergewöhnliches, heroisches und einmaliges Ereignis und als Geburtsmoment der Psychoanalyse dargestellt wird. Der Verkündigung der frohen Botschaft im Evangelium entspricht das Heilsversprechen der Psychoanalyse. Die neue Wissenschaft beanspruchte außerdem für sich, die intellektuelle Verarbeitungsweise zu verändern und eine Art neuen Kalender einzuführen. Wir finden Wunderheilungen bei Jesus (die Blutflüssige, die Auferstehung des Lazarus, der Blinde und der Gelähmte) wie bei Freud (Anna O., Dora, der Kleine Hans, der Rattenmann und der Wolfsmann). Die Verkündigung in der Wüste erinnert an Freuds angebliche Verleumdung
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