Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Autoren. Sechs Seiten (S. 956–961) sind Warum Krieg? gewidmet, und der Abschnitt zur Rezeption und Wirkung lehrt uns beispielsweise, dass Denis de Rougement den Text ein Vierteljahrhundert später in Réalités (Nr. 147, Januar – April 1958) zusammengefasst hat. Doch wir erfahren nicht, dass Freud auf Bitten Eduardo Weiss’, des Gründers der italienischen Gesellschaft für Psychoanalyse, eine lobende Widmung für den Duce in das Buch schrieb.
Das ist eine merkwürdige Aussparung, die sicher nicht am mangelnden Wissen des Autors liegt, denn in dessen früherem Werk L’Entendement freudien. Logos et anankè, das in der von dem Psychoanalytiker Jean-Bertrand Pontalis geleiteten Reihe »Connaissance de l’Inconscient« erschienen war (Gallimard, 1984), gab es ein Kapitel über diese Widmung mit dem Titel »Freud et Mussolini« (S. 253–256). Hier wurde Freud attestiert, dem Diktator eine Lektion in politischer Philosophie erteilt zu haben! Indem er einen »Helden der Kultur« aus ihm machte? Tatsächlich sprach Assoun ganz bedenkenlos von der »anarchistischen Färbung von Freuds politischer Position« (S. 244; er griff den Gedanken auf S. 260 erneut auf).
Besser, man liest Alltag bei Familie Freud. Die Erinnerungen der Paula Fichtl, die von Detlef Berthelsen zusammengetragen und 1987 veröffentlicht wurden (Hoffmann und Campe). Die Hagiographen können dieses Buch kaum gutheißen, denn es enthält die Erinnerungen einer Hausangestellten der Familie Freud, die fünfunddreißig Jahre lang im Dienst der Familie stand, zunächst in Wien und später in London. Jenen, die Fichtls Berichte für nicht weiter beachtenswert halten, sei gesagt, dass die französische Ausgabe in der Reihe »Bibliothèque de psychanalyse« erschien, und zwar unter der Leitung Jean Laplanches, der gemeinsam mit Jean-Bertrand Pontalis Das Vokabular der Psychoanalyse
veröffentlicht hat (Suhrkamp, 1973), das seit seinem Erscheinen 1967 in Frankreich als Standardwerk gilt. Eine Untergruppe innerhalb der Reihe heißt »Stratégies de la psychanalyse«. Und in Fichtls Buch erfährt man: »Die österreichische Regierung sei zwar ›ein mehr oder weniger faschistisches Regime‹, äußert Freud seinem Arzt Max Schur gegenüber, trotzdem, so erinnert sich der Freud-Sohn Martin Jahrzehnte später, ›hatte sie all unsere Sympathien‹. Das Gemetzel der Heimwehr unter den Arbeitern von Wien läßt Sigmund Freud kalt.« (S. 73) Freud apolitique?, fragte Gérard Pommier.
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Parerga und Paralipomena. Zur Fortsetzung meiner kommentierten – wenn auch vielleicht etwas unordentlichen – Bibliographie möchte ich die folgenden vier Bände nennen: Les Premiers Psychanalystes. Minutes de la Société psychanalytique de Vienne, übersetzt von Nina Schwab-Bakman, Gallimard 1976. Die Protokollbände umfassen: Band I, 1906–1908; Band II 1908–1910; Band III 1910–1911; Band IV 1912–1918. [ Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, hg. von Herman Nunberg und Ernst Federn, S. Fischer, Band I (1976), Band II (1977), Band III (1979) und Band IV (1981)] Der Leser kann mit diesen Texten bei den abendlichen Diskussionen der Analytiker Mäuschen spielen. Besonders die Lektüre der schier unendlichen Debatte über die Onanie, die wie eine Lektion in Katechese wirkt, ist lohnend.
Paul-Laurent Assouns Arbeiten Freud, la philosophie et les philosophes und Freud et Nietzsche (beide bei PUF erschienen) sind auf die von Freud vorgegebene Richtung hin orientiert. Freuds Verdrängung der Philosophie macht Assoun nicht zum Thema. Beide Bücher begnügen sich mit Collagen der Aussagen des Meisters und deren akademischer Kommentierung. Eine Untersuchung,
die wirklich nicht mehr unter Freuds Fuchtel steht – ein freies Buch von einem freien Menschen –, fehlt bislang.
Die Distanz zwischen Freuds Behauptung, Patienten mit der Psychoanalyse geheilt zu haben, und der Realität lässt sich im Fall von Sergej Pankejeff an Karin Obholzers Buch Gespräche mit dem Wolfsmann. Eine Psychoanalyse und die Folgen (Rowohlt, 1980) ermessen. Pankejeff bekennt darin, die Psychoanalyse habe ihm nicht geholfen, sondern sogar geschadet. Der angeblich von Freud geheilte Mann war noch mit neunzig Jahren in Psychotherapie. Zum gleichen Fall erschien auch Patrick Mahoneys Les Hurlements de l’Homme aux loups, übersetzt von Bertrand Vichyn (PUF, 1986).
Olivier Douvilles Chronologie de la psychanalyse du temps de Freud (1856–1939) (Dunod, 2009) will ihr Titelversprechen
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