Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
»Lebenswillen«, Hartmanns »Unbewusstes« oder Nietzsches »Willen zur Macht« einfach nicht zur Kenntnis, obwohl sie seiner phantastischen Entdeckung so ähnlich sind. Auch Begriffe wie Spinozas »Conatus«, d’Holbachs oder Guyaus »Nisus« oder Schellings »Leben«, die sich doch kaum vom eigenen, immer wieder erwähnten »Keimplasma« unterscheiden, ließ er unbeachtet. Freud hatte sich für den totalen Krieg entschieden, also führte er ihn.
Worin bestand sein Vorwurf genau? Freud zufolge wären die Philosophen die Frage nach dem Unbewussten falsch angegangen;
sie hielten es für einen unbekannten, dunklen Bereich des Bewusstseins. Als Grund für diesen Fehler identifizierte Freud ihre Unfähigkeit, anderes Untersuchungsmaterial als sich selbst zu verwenden. Außerdem hätten sie sich weder für Träume noch Hypnose oder die Klinik interessiert – ganz anders als Freud selbst! Solange ein Denker sich in der Bibliothek vergräbt und sich weder um die eigenen Träume noch um die seiner Patienten kümmert, kann er natürlich nicht zu interessanten, verlässlichen Gewissheiten und Erkenntnissen gelangen.
Mit anderen Worten: Weil Kant nie jemanden hypnotisiert und nie eine Kritik des Träumens geschrieben hat; weil er den therapeutischen Nutzen einer Behandlung nach Charcot nicht kannte und die eigenen Träume nicht analysierte, konnte er nichts Sinnvolles über das Unbewusste aussagen. Man könnte Freud entgegenhalten, dass man jemandem schwerlich vorwerfen kann, er habe eine zu seiner Zeit nicht existierende Methode nicht angewendet. Man könnte sagen, dass die Hypnose typisch für das 19. Jahrhundert war und eng mit dem Mesmerismus verwandt ist. Man könnte hinzufügen, dass ein weißer Arztkittel und ein auf der Couch liegender Patient nicht vor theoretischen Irrtümern bewahren. Doch das würde alles nichts nützen. Denn weil der Philosoph eben kein Psychoanalytiker ist, kann er Freud zufolge nichts Intelligentes zu diesem Thema beitragen. Wieder und wieder formulierte Freud den Gedanken, wenn man selbst nicht Analytiker oder Analysierter sei, könne man keine legitimen Aussagen über die Psychoanalyse machen. Seine geistige Blockade zeigt sich hier in Vollendung: Jede philosophische Äußerung über das Unbewusste ist prinzipiell null und nichtig, weil sie nicht von einem Psychoanalytiker stammt.
In Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse führte Freud seine Vorwürfe gegenüber der Philosophie näher aus. Die Philosophie irre, weil sie sich darüber definiere, Weltanschauungen zu entwerfen. Und was sei eine Weltanschauung?
Eine »intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst, in der demnach keine Frage offen bleibt und alles, was unser Interesse hat, seinen bestimmten Platz findet.« ( XXXV. Vorlesung: Über eine Weltanschauung, Bd. XV, S. 170) Doch passte diese Definition auf die Psychoanalyse nicht besser als auf jede andere Disziplin? War nicht die Psychoanalyse damals die aktuellste, am stärksten in sich geschlossene, totale, einheitliche und globale Weltanschauung? Umfasste sie nicht alle Themen, subsumierte sie unter das Prinzip des Unbewussten und löste sie damit nicht alle Rätsel? Schließlich befasste sie sich doch mit der Herkunft der Kunst, der Entstehung der Religionen und der Götter, der Genealogie der Moral und des Rechts, dem Ursprung der Menschheit, der Logik des Kriegs, den Geheimnissen der Politik; den individuell bewussten und unbewussten Prozessen, dem Sinn der Träume, der kleinsten Gesten, der Bedeutung der Lapsus, Fehlleistungen, geistreichen Bemerkungen, der Ironie, des Humors und des Scherzes; mit den Mysterien des Sexuallebens, der Masturbation im Bauch der Mutter, den Spielarten der Erotik und schließlich mit der Sublimierung. Wer gab vor, Phänomene aller Art behandeln zu können, etwa Geisteskrankheiten, Halluzinationen, Psychosen, Neurosen, Paranoia, Hysterie, Phobien und die gesamte Psychopathologie des Alltagslebens? War es nicht Freud, der einen Versprecher, einen verlorenen Schlüsselbund, ein betontes Schweigen, eine Stimmlage, die Berufswahl, die Entscheidung für einen Sexualpartner, Nahrungsvorlieben oder -abneigungen und tausend andere Dinge mit einer psychoanalytischen Erklärung versah, die stets auf die berühmte Grundthese über das Unbewusste hinauslief?
Und bedarf es denn nicht einer ganz besonderen Weltanschauung, wenn man die Zähmung des Feuers aus dem
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