Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Text nicht mit seinem Scheitern vor dem Nobelpreiskomitee in Zusammenhang. Dies wäre doch zu trivial für einen Mann, der Universelles anstrebt. Doch ohne zu merken, dass er von seinem persönlichen Fall in die Verallgemeinerung abglitt, schrieb der enttäuschte, beschämte Psychoanalytiker
hier über den Narzissmus der Menschheit. Nicht etwa über seinen eigenen, sondern – wir lesen richtig – über den Narzissmus aller Menschen.
Mit einer berühmt gewordenen Formulierung beschreibt Freud das Wesen der angesprochenen Kränkung, nämlich dass »das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« ( Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, Bd. XII, S. 12). Und zwar deshalb, weil dort das Unbewusste regiere. Diese Entdeckung beanspruchte der unglückliche Nobelpreiskandidat für sich. Weil der Mensch bemerkt, dass nicht er im Zentrum seiner selbst steht, erleidet er eine Kränkung – die Freud als eben erst Gekränkter gleich allen Menschen auf einmal zufügte! Es liegt also eine »Kränkung« (ebd.) vor, und zum Ausgleich verletzt der Verletzte alle anderen.
Zwei Kränkungen gehen dieser voraus. Zunächst die »kosmologische Kränkung« (ebd., S. 7). Zu verdanken haben wir sie Nikolaus Kopernikus und dessen Nachweis, dass sich die Erde nicht im Zentrum des Universums befindet, wie es die christliche Vulgata vorgibt, sondern sich um sich selbst und um die Sonne dreht, die ihrerseits den Mittelpunkt bildet. Der Mensch glaubte sich lange im Zentrum des Universums und musste nun in Über die Kreisbewegungen der Weltkörper erfahren, dass in Wahrheit nicht der Geo-, sondern der Heliozentrismus sein Sonnensystem bestimmt. Seitdem schwebt er durch die Peripherie, verloren in der Unendlichkeit des Universums.
Die zweite narzisstische Kränkung ist die »biologische« (ebd., S. 8). Zugefügt wurde sie uns von Charles Darwin mit dem Erscheinen von Die Entstehung der Arten im Jahr 1859. Den Lehren der römisch-katholischen Kirche folgend, hielten die Menschen bis dato den Wortlaut der Bibel und die Geschichte der Genesis für wahr. Demnach hätte Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen und sein Werk mit einem nach seinem Bilde geformten Menschen vollendet, bevor er sich am siebten Tag, der glücklicherweise auf einen Sonntag fiel, die wohlverdiente Ruhe gegönnt habe.
Doch nun war Darwin von einer Weltumsegelung auf der Beagle
zurückgekehrt und präsentierte die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit: Der Mensch wurde nicht von Gott erschaffen, sondern ist das Ergebnis eines natürlichen Prozesses namens Evolution. Der Mensch steht am Ende dieses Prozesses, der Affe am Anfang. Seit Darwin gibt es also keinen grundsätzlichen Unterschied mehr zwischen Mensch und Affe – wie die Religion ihn vertritt –, sondern nur einen graduellen. Diese Wahrheit traf den Menschen nach der ersten Kränkung erneut wie ein Faustschlag.
Die dritte narzisstische Kränkung kennen wir bereits. Nach der Entdeckung des Heliozentrismus durch Kopernikus und der Evolution durch Darwin entdeckte Freud die Psychoanalyse. Es fällt auf, dass nach Freuds Schema nicht nur die kosmologische und die biologische, sondern auch die psychologische Kränkung wissenschaftlicher Natur ist. Freud positioniert sich hier also klar als Wissenschaftler.
Es ist, nebenbei bemerkt, äußerst unbescheiden, sich selbst zu Lebzeiten auf eine Stufe mit zwei bedeutenden Forschern zu stellen, zumal wenn man nur wenige Veröffentlichungen – darunter Die Traumdeutung – vorzuweisen hat. Doch Freud hatte keine Angst vor Größenwahn. Er ging sogar noch darüber hinaus und kombinierte Hochmut mit Eitelkeit. Auf einem gedachten Siegertreppchen für die drei Wissenschaftler stünde er zweifelsohne auf der höchsten Stufe! Diese Selbsteinschätzung nämlich liegt der erstaunlichen Äußerung zugrunde: »Am empfindlichsten trifft wohl die dritte Kränkung, die psychologischer Natur ist.« (ebd.) Und das ist: seine Kränkung. Kopernikus und Darwin müssen sich nun gleichberechtigt den zweiten Platz teilen.
Diese Unglaublichkeit kann man im Zusammenhang mit einer Analyse sehen, die Freud in Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit« vornimmt. Der kurze Text wurde 1917 veröffentlicht, im selben Jahr wie die schriftliche Selbstkrönung. Dichtung und Wahrheit ist der Titel von Goethes Autobiographie. Goethe erzählt darin von seiner einzigen Erinnerung aus der Kleinkindzeit: Er warf Geschirr zu Boden, welches zerbrach.
Daraufhin feuerten ihn drei Kameraden an,
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