Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
zwischen jugendlicher Faszination und späterer, Jahrzehnte währender Ablehnung Rechnung tragen. Und sie muss auch eine Art Aufhebung thematisieren, die ihm erlaubte, die Philosophie dann ohne Vorbehalt zu lieben, nachdem er den Hass integriert hatte. Im Jahr 1896 erfand Freud die Psychoanalyse. An Fließ schrieb er damals: »Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt im Begriffe, sie zu erfüllen, indem ich von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke. Therapeut bin ich wider Willen geworden« (2. April 1896, Briefe an Wilhelm Fließ, S. 190).
Einige Monate zuvor hatte er sich in Bezug auf seine Abkehr von der Medizin ähnlich geäußert: »wie ich im geheimsten die Hoffnung nähre, über dieselben Wege zu meinem Anfangsziel, der Philosophie, zu kommen. Denn das wollte ich ursprünglich, als mir noch nicht ganz klar war, wozu ich auf der Welt bin.« (1. Januar 1896, ebd., S. 165) In beiden Briefen bekundete Freud, dass die Philosophie sein höchstes Ziel gewesen sei, und das in dem Moment, als der Begriff Psychoanalyse auftauchte, mit dem er, wie es schien, seine Jugendliebe zurückgewinnen wollte. Ich behaupte deshalb, dass die Psychoanalyse Freuds Philosophie ist und keine wissenschaftliche, allgemeingültige Lehre.
Freud gab sich den Anstrich des Wissenschaftlers, agierte aber als Philosoph. Lassen wir in diesem Zusammenhang die himmelschreiende Gleichsetzung mit Kopernikus und Darwin außer Acht. Sie ist bloßer Flitterkram und gehört in das Reich von Freuds selbst verfassten Legenden und Mythen. Doch erinnern wir uns an die Vorstellung vom Konquistador auf Abenteuersuche. Bleibt nur noch herauszufinden, was der neue Kolumbus denn tatsächlich entdeckt hat: einen riesigen Kontinent mit unendlichen Weiten oder das kleine, umzäunte Feld seiner subjektiven Wahrheit? Das weit entfernte Amerika oder ein kleines Fürstentum vor der eigenen Haustür? Oder vielleicht gar nichts – nämlich eine Illusion, ein Trugbild, eine Fata Morgana in der Wüste des Denkens?
Im Vorwort zur zweiten Auflage von Die Traumdeutung gibt Freud uns dazu einige Hinweise. Der umfangreiche Band tritt wie eine Kriegsmaschine auf, imstande die Geschichte der Menschheit in zwei Teile zu spalten: die Zeit vor der Entdeckung des Unbewussten und die Zeit danach. Das vorgezogene symbolkräftige Erscheinungsdatum 1900 sollte dieser Aussage zusätzliches Gewicht verleihen. Denn Freud wusste, glaubte und wünschte, dass dieses Buch der Auftakt einer neuen Zeit würde, ein neues Jahrhundert einläuten und einen Fortschritt in der Menschheitsentwicklung darstellen könnte. Es sollte gewissermaßen einen neuen Kalender begründen, der ausschließlich auf dieser neuen Wissenschaft basierte.
Doch das wissenschaftliche Werk verrät auf jeder Seite seinen autobiographischen Charakter. Freud höchstpersönlich weist darauf hin, dass es sich um Teile einer Selbstanalyse handelt. Er untersucht die eigenen Träume und präsentiert eine analytische Selbstbeobachtung in der großen Tradition von Augustinus’ Confessiones, Montaignes Essays, Rousseaus Bekenntnissen oder Nietzsches Ecce homo, um nur die Monumente des abendländischen Denkens zu nennen. Die Traumdeutung hat ihren Platz in dieser philosophischen Ahnengalerie.
Wer könnte das abstreiten, wenn selbst der Autor es verkündet? Erstens basiert das Werk auf seinen eigenen Träumen und deren Analyse. Zweitens enthält es ein persönliches Bekenntnis: »Für mich hat dieses Buch nämlich noch eine andere subjektive Bedeutung, die ich erst nach seiner Beendigung verstehen konnte. Es erwies sich mir als ein Stück meiner Selbstanalyse, als meine Reaktion auf den Tod meines Vaters, also auf das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes. Nachdem ich dies erkannt hatte, fühlte ich mich unfähig, die Spuren dieser Einwirkung zu verwischen.« ( Die Traumdeutung, Vorwort zur zweiten Auflage, Bd. II/III, S. X)
Der Konquistador machte sich also auf, unbekanntes Terrain zu erobern, doch sein Ziel lag nicht weit entfernt, denn es war der dunkle Teil des eigenen Innenlebens. Auch Freuds Korrespondenz mit Fließ – ebenfalls eine Selbstanalyse – zeugt von der ständigen Beschäftigung mit den eigenen Leiden, darunter Migräne, Nasenbluten, Verdauungsprobleme, depressive Verstimmungen, sexuelles Versagen, Müdigkeit, Somatisierungen und fehlende Inspiration. Freud muss damals wirklich in einem sehr
Weitere Kostenlose Bücher