Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Resterscheinungen der Neurose sein, die Freud vor und während seiner Selbstanalyse so stark gepeinigt hätte. Bemerkenswert ist, dass er von Resterscheinungen spricht, denn eigentlich hätte Freud durch den Geniestreich der Selbstanalyse von seiner »ausgesprochenen Psychoneurose« geheilt sein müssen. Treten lange nach dem Ende der Selbstanalyse noch Symptome auf, so heißt das nicht etwa, dass die Krankheit fortbestehe, sondern dass es sich lediglich um Resterscheinungen handele.
Tatsächlich hat Jones mit seinem Hinweis recht: Die Verdauungsprobleme gründen in der Psychopathologie einer Person. Und dem berühmten Patienten war keine Pause von seinen Beschwerden vergönnt. Freuds Zurückführen der Verdauungsprobleme auf den Verlust eines Großteils seiner Ersparnisse – er hatte vor dem Krieg über 100 000 österreichische Kronen gespart und deshalb auch nach der Krise noch 60 000 übrig – ist besonders interessant, wenn man seine Gleichsetzung von Geld, Gold und Fäkalien einbezieht. Sie dürfte zwar nicht alle Proktologen überzeugen, aber Freud verfocht sie mit großer Ernsthaftigkeit.
Freuds Mutter nannte ihn in einem Brief einmal »Sigi, mein Gold«. Doch die wöchentlichen Besuche des Gold-Sigi führten bei diesem eben regelmäßig zu Verdauungsbeschwerden. Gemäß dem bereits erläuterten Prinzip der Übertragung des selbst Erlebten auf die ganze Welt fand auch die Verwandtschaft zwischen Gold und Fäkalien Eingang in die Theoriebildung. So wurde die persönliche, anhaltende und unbestreitbar neurotische Pathologie eines Tages zur Theorie, nachzulesen in Charakter und Analerotik
(1908) und später in Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik (1916/17).
Gleich zu Beginn des ersten Buchs erklärt Freud: »Ich weiß heute nicht mehr anzugeben, aus welchen einzelnen Veranlassungen mir der Eindruck erwuchs, daß zwischen jenem Charakter und diesem Organverhalten ein organischer Zusammenhang bestehe, aber ich kann versichern [ sic ], daß theoretische Erwartung keinen Anteil an diesem Eindrucke hatte.« ( Charakter und Analerotik, Bd. VII, S. 203) Danach spricht er von »Erfahrung«, ohne anzugeben, welchen Anteil Selbstbeobachtung und Ergebnisse aus der Klinik jeweils daran hatten. Berücksichtigt man den großen Anteil der subjektiven Erfahrungen des Autors an diesem Charakter, so lohnt es sich, deren Rolle bei der Entstehung von Zwangsneurosen näher zu betrachten.
In Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) und anderen Texten stellte Freud eine Theorie der sexuellen Entwicklung auf: Sie reicht von der oralen Phase über die sadistisch-anale und die (von einer Latenzperiode gefolgte) phallische bis zur genitalen Phase. Die orale Phase umfasst das erste Lebensjahr des Kindes, welches in dieser Zeit kein anderes Sexualobjekt kennt als sich selbst. Die Ziele der letzten Phase sind die Entwicklung eines sogenannten normalen Sexuallebens und die Fortpflanzung. In der oralen Phase wird die sexuelle Aktivität kannibalisch genannt, weil sie nicht vom Akt der Nahrungsaufnahme getrennt ist: Lust entsteht durch die Aufnahme von flüssigen oder festen Substanzen. Die erogene Zone besteht aus Mund, Lippen und Mundschleimhaut. So erklärt sich die Lust am Saugen, Gestilltwerden und Lutschen.
In der sadistisch-analen Phase im Alter von zwei bis drei Jahren verlagert sich die erogene Zone hin zum Schließmuskel. Nun geht es darum, den Stuhlgang zu kontrollieren, was die Fähigkeit zur Entscheidung über das Zurückhalten oder Ausstoßen der Fäkalien voraussetzt. Das Kind erlebt diese Aktivitäten nun als lustvoll. Der Hedonismus betrifft »vor allem die erogene Darmschleimhaut«
( Die infantile Sexualität, Bd. V, S. 99). In dieser vorgenitalen Phase geht es noch nicht um sexuelle Reproduktion. Die »Kloakenrolle der analen Zone« (ebd.) polarisiert die Libido, bevor die Entwicklung zur heterosexuellen genitalen Phase beginnt.
Indem es Kontrolle über seine Fäkalien gewinnt, begreift das Kind, dass es Ja oder Nein sagen, Geben oder Zurückhalten kann. Es entdeckt, dass es Macht über die Welt hat; es erkennt die eigene Autonomie und Unabhängigkeit. Die Exkremente erhalten so zwar keinen Nutz-, aber immerhin einen Tauschwert: Das Kind weiß, dass die Eltern von ihm die Beherrschung des Stuhlgangs, also das Sauberwerden, erwarten, und kann mit dieser Erwartungshaltung spielen. Die Absonderungen aus dem eigenen Bauch erscheinen dem Kind wie Teile seines Körpers, mit denen es spielen kann. Es
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