Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Meisters und seiner Schüler wurde aus diesem persönlichen Problem eine über alle Zeiten fortdauernde Geißel der Menschheit. Das Problem eines einzelnen Mannes brachte allen Menschen eine Neurose ein – nur weil dieser Mann glaubte, die eigene Neurose sei leichter erträglich, wenn sie von allen geteilt würde.
Freud arbeitete an seiner Legende und schuf eine Statue seiner selbst. Dazu gehörte auch die Erzählung von der finanziellen Pleite seines Vaters. Dieser hatte eine Textilfabrik in Freiberg besessen und musste diese angeblich im Zuge einer Krise im Textilsektor aufgeben. Die Familie sei deshalb 1859 von Mähren nach Wien gezogen. Zudem sei eine Eisenbahnstrecke gebaut worden, von der nicht nur Freiberg, sondern auch andere Orte profitiert hätten. Freud war damals dreieinhalb Jahre alt. Die Krise von 1872 habe, so Freuds Legende weiter, Jakob Freud endgültig ruiniert. Freud sprach seinen Vater damit von jeder Schuld frei und
wies ihm keinerlei Verantwortung für das eigene Schicksal oder das der Familie zu.
In Wahrheit spielte sich die Geschichte etwas anders ab, als Freud die Welt glauben machen wollte. Zu dieser Zeit gab es keine solche Krise, andere Textilunternehmen in der gleichen Stadt florierten sogar, während die Firma des Vaters schließen musste. Die Eisenbahnstrecke wurde zwar gebaut, aber sie verlief unweit der väterlichen Fabrik und verbesserte so die Möglichkeiten der Familie, mit anderen Städten Handel zu treiben. Jakob Freud scheint ein Dilettant gewesen zu sein, der wenig Talent für den Handel hatte. Er arbeitete nicht, lebte von geliehenem und nie zurückgezahltem Geld und schien sich um nichts weiter Sorgen zu machen. Als seine erste Frau mit dreiunddreißig Jahren starb, war er allein für die zwei Kinder verantwortlich. Mit Amalia zeugte er binnen zehn Jahren acht weitere Kinder, war dann im Alter von siebenundsechzig Jahren für sieben Kinder und eine Ehefrau verantwortlich und konnte seinen Verpflichtungen nicht nachkommen: Um studieren zu können, musste Sigmund Freud Kredite aufnehmen, sich um Stipendien bemühen und Geld von Verwandten, Freunden oder Lehrern leihen. Aus diesem Stoff macht man keinen Helden.
Das berufliche Scheitern in Freiberg führte jedenfalls zum Umzug nach Leipzig und später nach Wien. Man reiste mit dem Zug – ein Fortbewegungsmittel, vor dem Freud zeitlebens Angst haben sollte. Er fürchtete Unfälle, kam immer viel zu früh am Bahnhof an und buchte bei Ferienreisen manchmal einen Wagen für sich allein, abgetrennt von der Familie. Vor den Nazis flüchtete er mit dem Zug aus Wien. Ein berühmtes Foto zeigt ihn mit seiner Tochter Anna in einem Waggon am Fenster sitzend. So war es passend, dass er dem Geist des Ödipus in einem Zug begegnete.
Solange Freuds Briefe an Fließ nicht zugänglich waren, funktionierte die Legende, der zufolge Freud die Untiefen seiner Psyche
erkundete, als mutiger Abenteurer auf unbekanntem Terrain alle Gefahren überwand und mit der Kühnheit des Konquistadors die universelle Wahrheit des Ödipuskomplexes entdeckt hatte. Doch mit den historischen Fakten hat diese Geschichte nichts zu tun. Und doch wurde sie von allen verbreitet und bestätigt: von Wörterbüchern, Lexika, Schulen, Universitäten, Verlagen, der gesamten Wissensmaschinerie, der journalistischen Vulgata, den Achtundsechzigern und deren Gegnern und anderen zahllosen Mechanismen der Reproduktion von Fiktionen. Diesem ideologischen Totalitarismus konnte sich niemand entziehen.
Die Zensur vonseiten der Tempelwächter und Sektenmitglieder – allen voran Anna Freud – ist vor diesem Hintergrund verständlich. Sie zerstörten Dokumente, kauften sie, um sie dann verschwinden zu lassen, und veröffentlichten nur bestimmte Texte. Das oberste Ziel war, den goldenen Mythos ihres Helden aufrechtzuerhalten. Andere Dokumente lagerten in Archiven, durften nur von wenigen Auserwählten eingesehen werden und wurden der Öffentlichkeit erst nach Ablauf wahnwitziger Fristen zugänglich gemacht. Der Inhalt dieser Briefwechsel muss wahrlich explosiv sein. Wieso wird zum Beispiel ein Gespräch mit Freuds Sohn Oliver bis 2057 unter Verschluss gehalten?
Der Briefwechsel mit Fließ umfasst die Jahre 1887 bis 1904 und erstreckt sich damit von Freuds einunddreißigstem bis zu seinem achtundvierzigsten Lebensjahr. Siebzehn Jahre intimster Einblicke in das Leben eines depressiven, melancholischen, ungeduldig auf den Erfolg wartenden Psychiaters. Seine
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