Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
noblen Prozess der Nahrungsaufnahme übrig bleibt. Aus der Feder eines Denkers, der Wissenschaft und Wahrheit auf dem Niveau eines Kopernikus oder eines Darwin für sich beanspruchte, ist dies erstaunlich. Die seltsame Gleichsetzung von Geld und Fäkalien entspringt einer persönlichen Mythologie. Mit ihr schließt die Untersuchung von Freuds Beziehung zu seiner Mutter.
Es ist zwar nur ein Detail, aber wie jeder weiß, sitzt der Teufel gerade dort: Freuds Mutter Amalia starb im September 1930. Im selben Monat schrieb Freud einen Brief an Jones, in dem er zugab, durch diesen Tod zwei Dinge über sich herausgefunden zu haben: Erstens habe er größere persönliche Freiheit erlangt, weil
sie vor ihm gestorben sei und er ihr das eigene Ableben nicht habe zumuten müssen. Vor diesem Szenario hatte er seit Langem Angst gehabt, wahrscheinlich seit seiner Krebsdiagnose im Jahr 1923.
Zweitens empfand er »die Befriedigung, daß ihr endlich die Befreiung geworden ist, auf die sie sich in einem so langen Leben ein Recht erworben hatte.« (15. September 1930, Freud/Jones, Briefwechsel, S. 76.) Welche Befreiung? Wovon wurde sie befreit? Von welchem Übel, welcher Krankheit, welchen Leiden oder extremen Enttäuschungen? Seine Mutter war nicht krank gewesen, im Gegenteil, sie war bis zum letzten Atemzug mit fünfundneunzig Jahren bei guter Gesundheit und bei vollem Bewusstsein.
Nicht sie war nun endlich vom Leben befreit. Vielmehr war es Freud, der sich endlich befreit sah, und zwar von der Angst vor dem Verlust der Mutter. Jones schilderte er seine Gefühlslage als »Keine Trauer sonst« (ebd.). Ein letztes Detail beweist, dass sich hinter der gelassenen Rhetorik des Briefes Freuds reales, extremes Leid verbarg. Gold-Sigi nahm nämlich nicht am Begräbnis der Mutter teil, sondern schickte seine Tochter Anna.
III.
Ödipus – Eine Fata Morgana im Schlafwagen
»[D]aß […] meine Libido gegen matrem [ sic ] erwacht ist,
und zwar aus Anlaß der Reise mit ihr von Leipzig nach Wien,
auf welcher ein gemeinsames Übernachten und Gelegenheit,
sie nudam [ sic ] zu sehen, vorgefallen sein muß [ sic ].«
Sigmund Freud, Brief an Wilhelm Fließ, 3. Oktober 1897
( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 288)
Sigmund Freud hat einige der zentralen Positionen der Psychoanalyse vor dem Hintergrund seiner Biographie entwickelt. Fassen wir das Verhältnis von biographischer Praxis und Theoriebildung zusammen: Es gibt Kausalbeziehungen zwischen der Selbstanalyse, dem Tod des Vaters und Freuds Bedürfnis, die eigene Mitte wiederzufinden. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen der Bedeutung der Träume und bestimmten rätselhaften Kindheitserinnerungen. Die Kastrationsangst steht in Zusammenhang mit dem Nachttopf als Ausgangsmoment einer existentiellen Reaktivität. Der Familienroman gründet im Nachdenken über den Halbbruder im Alter der Mutter und in den daraus entstehenden Fragen zu Familiengeschichte und sexueller Identität. Die Theorie vom Lieblingskind basiert auf den intensiven Liebesbezeugungen der Mutter, welche Freuds Genie und Erfolg begründen und legitimieren. Freud hatte Schuldgefühle angesichts des Todeswunsches, den er in seinen frühen Jahren den neugeborenen Geschwistern entgegenbrachte. Der Keim der Deckerinnerung liegt in der Verschiebung von einem Philipp zum anderen unter Ausblendung der Wahrheit. Im analen Charakter des Geldes finden sich die Mutter und ihr Gold-Sigi mit seinen Verdauungsbeschwerden
wieder – es ist die nervöse Schwangerschaft eines Sohnes, der ontologisch von seiner Mutter geschwängert wurde.
Dies ist der rote Faden, der die Ereignisse eines an sich banalen Lebens miteinander verbindet. In Freuds Jugend geschah nichts Außergewöhnliches. Er erfuhr narzisstische Kränkungen und seelische Blessuren; erlebte die Vermischung von Fantasien und Vorstellungen mit der Wirklichkeit und der Geschichte; oberflächliche Reaktionen; Liebe und Hass, Vorlieben und Abneigungen; andere Kinder; die Differenz zwischen imaginärer und zeitlicher Ordnung; die kompromisslose Herrschaft von Regungen, Trieben und der Libido sowie die Fixierungen der schwarzen, geschlechtlichen Energie auf die Psyche. Kurz: Er erlebte die Banalität der Existenz.
Heute kennen wir diesen roten Faden unter dem Namen Ödipuskomplex. Jenes Epizentrum der Psychoanalyse entsprang Freuds tiefster Seele, denn die angebliche wissenschaftliche Wahrheit war vor allem ein existentielles subjektives Problem. Durch die Zauberkünste des
Weitere Kostenlose Bücher