Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Geburt seines Bruders 1857 wurde 1931 in Über die weibliche Sexualität zur allgemeinen Theorie ausgeweitet. Erinnern wir uns an Freuds Brief an Fließ vom 3. Oktober 1897, in dem er erklärt, seinen Bruder Julius »mit bösen Wünschen und echter Kindereifersucht begrüßt« zu haben ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 288). Denn die Ankunft des Bruders bedrohte die exklusive Beziehung, welche die Mutter zum bislang einzigen Sohn pflegte. Der frühe Tod des Jungen löste bei Freud eine gewisse – und unverstellte – Befriedigung aus.
Bereits seine Analyse der Kindheitserinnerung Goethes brachte ihn zu der Ansicht, das Kind habe durch die Zerstörung des Geschirrs »seinen Wunsch nach Beseitigung des störenden Eindringlings zu kräftigem Ausdruck« gebracht ( Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit«, Bd. XII, S. 21). Im Text von 1931 referiert er über die »Eifersucht auf andere Personen […], auf Geschwister, Rivalen« ( Über die weibliche Sexualität, Bd. XIV, S. 524). Der Grund: »Die kindliche Liebe ist maßlos, verlangt Ausschließlichkeit, gibt sich nicht mit Anteilen zufrieden.« (ebd.) In diesem Fall ist die psychoanalytische Wissenschaft wirklich autobiographisch!
Wenden wir uns wieder Freuds Mutter zu. Sie verhätschelte, liebte, umhegte, feierte und bevorzugte also ihren Sohn. Das sagte, zeigte und bewies sie, und er glaubte ihr natürlich. Wie hätte er diese Frau nicht bis zum Wahnsinn lieben können? Sie vermittelte ihm ein schönes, makelloses, wunderbares Selbstbild, das exakt seiner eigenen Wahrnehmung entsprach – die ja von der Mutter selbst generiert worden war! Hier liegt der Ursprung der inzestuösen Beziehung. Zugleich jedoch distanzierte Freud sich von der Mutter; die Beziehung war pathologisch und manifestierte sich somatisch. Lou Andreas-Salomé, die sich nach dem Befinden der Mutter erkundigte, antwortete er mit Neuigkeiten über seine Frau.
Jeden Sonntag besuchte er gemeinsam mit einem seiner Kinder die Mutter. Und jedes Mal kehrte er mit Verdauungsbeschwerden
zurück. Wie immer wandte er seine Lehre nicht auf sich selbst an und fand für die Probleme weit weniger transzendente Erklärungen als jene, deren er sich in seiner Praxis bediente. Er fand banale Begründungen, etwa das zu reichhaltige Abendessen am Vortag. Die Briefe an Fließ dokumentieren die Verdauungshistorie. Am 31. Oktober 1897 berichtete er beispielsweise: »Unter dem Einfluß der Analyse ersetzen sich meine Herzbeschwerden jetzt sehr häufig durch Magendarmbeschwerden.« ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 298)
Als er am 19. September 1901 von seiner Reise nach Rom zurückkehrte, unterhielt er den Freund mit Beschreibungen über »eine Magen-Darmverderbnis« (ebd., S. 494). In einem Brief an Karl Abraham vom 25. März 1914 erzählte Freud, dass er mit seiner Schwägerin Minna in der italienischen Hauptstadt, der Mutter-Erde, Urlaub machte (während seine Frau sich um die Kinder kümmerte). Er arbeitete damals an der Gliederung für Zur Einführung des Narzißmus und klagte: »Ich habe seit der Beendigung des Narzißmus keine guten Zeiten. Viel Kopfweh, Darmbeschwerden« (Freud/Abraham, Briefe, S. 164). Der Aufenthalt im mit der Mutter identifizierten Rom, das Nachdenken über den Narzissmus und die Verdauungsbeschwerden scheinen miteinander in Beziehung zu stehen – jedoch nicht aus Freuds Perspektive.
In der Korrespondenz mit seinen Freunden klagte Freud immer wieder über den »armen Konrad« – so nannte er seinen Verdauungsapparat. Bei einer USA-Reise 1910 hatte er dort Beschwerden und machte die Ernährungsweise dafür verantwortlich. 1914 ließ er sich untersuchen, weil er glaubte, Krebs zu haben. Im Folgejahr vertraute er Ferenczi seine Probleme an und begründete sie damit, dass er schlechtes Brot gegessen habe! Oder er suchte den Grund im durch den Ersten Weltkrieg bedingten Verlust der beachtlichen Summe von 40 000 Kronen (entsprechend 3 250 000 Euro im Jahr 2010). Nur ganz am Rande hält er es in einem Brief an Ferenczi für möglich, die Beschwerden »einem psychischen
[Faktor]« zu verdanken (8. April 1915, Freud/Ferenczi, Briefwechsel, Bd. II/1, S. 116), über den er nichts weiter verlauten lässt. Die so von Freud gelegten Spuren sind jedenfalls nicht geeignet, den Fall Freud zu erklären.
Äußerst zaghaft wagte Ernest Jones eine Interpretation, die mit der Fiktion der Psychoanalyse übereinstimmt: Solcherlei Unpässlichkeiten könnten sehr gut auch psychosomatische
Weitere Kostenlose Bücher