Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
sie in den Kasten gesperrt. Er bat ihn, diesen zu öffnen, um nachzusehen, ob sie wirklich nicht darin war. Vor dem leeren Kasten fing er zu schreien an, worauf die Mutter kam, um ihn zu beruhigen. Doch weshalb suchte er seine Mutter in einem Kasten? Freud forschte tiefer in seinen Erinnerungen nach und stieß auf die alte Kinderfrau, konnte jedoch keine Verbindung zwischen beiden Erinnerungen herstellen. Auf Nachfrage bei der Mutter erfuhr er, dass die Kinderfrau Diebstähle im Haus begangen hatte, während die Mutter im Wochenbett lag. Auf Betreiben des Bruders wurde sie vor Gericht gestellt.
Und als Freud den Bruder fragte, wo die Kinderfrau geblieben
sei, antwortete dieser, sie sei »eingekastelt« (ebd., S. 59). Wegen der Abwesenheit der Mutter befragte Freud den Bruder und nahm an, dass er diese, wie schon die Kinderfrau, in den Kasten gesperrt habe, was Freud in seinem naiven Symbolismus als Schwängern deutete. »Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen dem Frauenleib« ( Die Traumarbeit, Bd. II/III, S. 359).
In der Episode setzte Freud alle Faktoren miteinander in Beziehung: die mit der Schwester Anna schwangere Mutter, die Jugendlichkeit sowohl seiner Mutter Amalia als auch seines Halbbruders Philipp, das Alter des Vaters, das Verschwinden der »eingekastelten« Kinderfrau und der im Wochenbett liegenden Mutter, die »schlank« zurückkehrte (mit anderen Worten: der Koffer war – wieder – leer), und schließlich die Möglichkeit, dass Philipp Annas Vater war, dass also sein Halbbruder mit seiner Mutter geschlafen und ein kleines Mädchen gezeugt haben könnte, das genauso hieß wie später eine von Freuds Töchtern, mit der er eine ontologisch inzestuöse Beziehung unterhielt.
Aus dieser subjektiven, persönlichen und individuellen Familienkonstellation leitete Freud – wie üblich – Folgerungen ab, die in eine Theorie mit universellem Anspruch Eingang fanden. In Der Familienroman der Neurotiker aus dem Jahr 1909 stellte er eine These auf, die er bereits in einem Brief an Fließ vom 20. Juni 1898 formuliert hatte: »Alle Neurotiker bilden den sogenannten Familienroman […], der einerseits dem Größenbedürfnis dient, andererseits der Abwehr des Inzestes« ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 347). Hier sei angemerkt, dass die Konstruktion dieses Romans nach Freuds eigener Aussage Einfluss auf die Neurosen hat und dass er sich in Gestalt des jungen Philipp einen anderen Vater als den alten Jakob gewünscht hatte.
Damit wollte Freud uns sagen, dass ein Kind sich von den Eltern zurückgesetzt fühle, wenn es den Eindruck hat, diese gingen nicht auf alle seine Wünsche ein. Darüber hinaus stelle es sich vor, seine Eltern seien nicht seine Erzeuger, es bilde Fantasien
über ideale, jüngere, schönere, reichere, berühmtere Vorfahren. Dieses Gefühl des Zurückgesetztseins tritt laut Freud genau dann auf, wenn die Eltern alt sind oder wenn ein jüngeres Geschwisterkind zur Familie hinzukommt – beides war bei ihm der Fall.
Als das Kind die Verteilung der sexuellen Rollen innerhalb der Paarbeziehung begriffen hatte, verstand es auch, dass man sich der Mutter immer sicher ist, nie aber des Vaters. Der zweite Teil des Familienromans beschäftigte sich deshalb mit dem Vater. An dieser Stelle ist der Text bemüht, die Mutter »in die Situation von geheimer Unruhe und geheimen Liebesverhältnissen zu bringen« ( Der Familienroman der Neurotiker, Bd. VII, S. 230), doch die Untreue ist im Rahmen dieser Logik nicht offensichtlich, weil der ersetzte meistens Züge des tatsächlichen Elternteils trägt. So ist das Kind letztlich wieder auf den imaginären idealen Vater bezogen und zeigt damit, dass es jenen als glücklich empfundenen Abschnitt der Kindheit schmerzlich vermisst, in dem ihm der wirkliche Vater noch als ideal erschienen war.
Es wird deutlich, dass diese Analyse mit allgemeinem Anspruch letztlich ein kaum kaschiertes autobiographisches Bekenntnis ist. Dessen Protagonisten heißen Jakob und Amalia (die Eltern), Julius und Anna (die Kinder) sowie Sigmund und Philipp (der Halbbruder als imaginärer Vater des Kindes, das seinen Familienroman erfindet). Wann und wo hat Freud weitere Beobachtungen durchgeführt, Analysen überprüft, klinische Experimente unternommen oder Fälle aus der therapeutischen Praxis zusammengeführt, bevor er zu diesen Schlussfolgerungen mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit kam? Wie viele Patienten hat er untersucht? Wie viele »Neurosen« – denn
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