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Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Titel: Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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den Ödipuskomplex? Ein Schreiben vom 3. Oktober 1897 beginnt mit
numerologischen Exkursen, wie sie zwischen den beiden Freunden üblich waren. Fließ glaubte, alle Krankheiten ließen sich aus den Zyklen von 23 Tagen bei Männern und 28 Tagen bei Frauen erklären: Nasenbluten, Nasensekretion, Menstruation, Angina, Zahnen, Zahnausfall, literarische Inspiration, melancholische Phasen, sexuelle Impotenz, Todeszeitpunkte.
    Nach den kabbalistischen Zahlenspielchen kam man wie immer auf den Boden der Tatsachen zurück. Freud schlug eine – natürlich wissenschaftliche – Erklärung für die Beziehung zwischen der Lungenentzündung einer Frau und dem Einsetzen der Wehen von deren schwangerer Tochter vor! Zitat: »a x 28 + b x 23« ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 288). Ähnlich verfuhr Freud nach der Geburt seiner Tochter Anna. Er füllte eine Seite mit Berechnungen ausgehend von den Daten der Kontraktionen, der Geburt, dem Wiedereinsetzen der Regelblutung und der regulären Periode von Annas Mutter. Er sammelte ungefähr dreißig Zahlen, mit denen er herumjonglierte, er addierte, dividierte und kam schließlich zu dem bedeutsamen Schluss, die Geburt habe zum richtigen Datum stattgefunden – nämlich am 1. März 1896. In solchen Momenten war Kopernikus ganz weit weg … Es ist verständlich, dass Anna die Veröffentlichung von derlei wissenschaftlichen Elaboraten ihres Vaters so lange wie möglich zu verhindern suchte. In diesem intellektuellen Kontext und unter derartigen wissenschaftlichen Vorzeichen erzählte Freud seinem Freund also von jener großen Entdeckung, die später in der Theorie vom Ödipuskomplex gipfeln sollte.
    Stöbern wir zunächst ein wenig hinter den Kulissen dieser außergewöhnlichen Geschichte. Die sogenannte Urszene spielte sich laut Freud ab, als dieser zwei oder zweieinhalb Jahre alt war. Er schrieb an Fließ, damals habe er bemerkt, »daß […] meine Libido gegen matrem [ sic ] erwacht ist, und zwar aus Anlaß der Reise mit ihr von Leipzig nach Wien, auf welcher ein gemeinsames Übernachten und Gelegenheit, sie nudam [ sic ] zu sehen, vorgefallen sein muß [ sic ]« (3. Oktober 1897, Briefe an Wilhelm Fließ,
S. 288). In dieser Urszene spielt die Sprache Ciceros eine interessante Rolle!
    Richard von Krafft-Ebing nannte seine klinisch-forensische Studie Psychopathia sexualis, weil Obszönitäten auf Lateinisch nicht als solche erscheinen – wie man weiß, sind Lateiner echte Lebemänner. Auch Freud sah nicht die nackte Mutter, sondern matrem nudam. Die erste Lektion lautet also: Während die meisten hier mit ihrem Latein am Ende wären, beunruhigte Freud die Sache dermaßen, dass er sich zuallererst ins Lateinische flüchtete. Die zweite Lektion ist: Wenn es sich wirklich um diesen Zeitpunkt und um diese Reise handelte, dann saß Freud während der Reise nach Wien mit seiner Mutter im Zug. Doch dies war nicht 1858 oder 1859, worauf Freuds Angaben hindeuten, sondern 1860. Damals war das Kind nicht zwei oder zweieinhalb, sondern dreidreiviertel Jahre alt, also knapp vier.
    Die dritte und wichtigste Lektion zeigt uns: Freud sagte nicht, dass er die Mutter gesehen hat, sondern dass er sie gesehen haben muss, dass die Dinge sich so abgespielt haben müssen. In anderen Worten: dass diese Szene nicht stattgefunden hat, sondern stattgefunden haben könnte! Also basiert der Ödipuskomplex nicht auf einer wissenschaftlichen, ordnungsgemäß bestätigten und klinisch überprüften Beobachtung, sondern auf einem Wunsch, einer These, einem Bedürfnis, einer Hoffnung, auf dem Gelüst eines kleinen Jungen, der seine Mutter im Waggon oder nachts im Hotel gerne nackt sehen wollte. Man kann es nicht anders sagen, als dass Freud hier seine Wünsche für Realität hielt.
    Von Leipzig nach Wien sind es fünfhundert Kilometer Luftlinie. Rechnet man die Kutschfahrten zu den Bahnhöfen hinzu, sind eine Reisedauer von zwei Tagen und eine Übernachtung wahrscheinlich. Vielleicht in einem Hotel in Prag? Oder an einem anderen Ort? Niemand weiß es, und Freud äußerte sich nicht dazu. Doch er vermutete, dass er seine Mutter unter diesen Umständen nicht nackt gesehen haben konnte. Aus diesem Kindheitswunsch, an den der Erwachsene sich vierzig Jahre später zu erinnern
meinte, entwickelte sich eine unglaubliche Geschichte, die eine wichtige Rolle für die Entstehung einer Disziplin namens Psychoanalyse spielte.
    Ernest Jones verwandelte in seiner Biographie Sigmund Freud – Leben und Werk (1953, dt. 1962) in

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