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Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Titel: Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Veröffentlichung kratzte natürlich an der Legende, beschädigte den Mythos. Die Geschichte kam endlich zu ihrem Recht. Es geht bei der Betrachtung des Briefwechsels nicht um ein moralisches Urteil, sondern um eine wertfreie Darstellung. Sie soll zeigen, welche historischen Wahrheiten zugunsten der Legendenbildung verschwiegen wurden.
    Zwischen 1887 und 1904 wechselte Freud von der Elektrotherapie über die Hypnose zu einer Therapie, bei der seine Patienten
sich auf der berühmten Couch ausstreckten. Er gelangte von der wissenschaftlichen Psychologie über die Methode der freien Assoziation zur psychischen Metapsychologie. Er wurde vom einsamen, armen Psychiater ohne Kunden, der erst nach langer Zeit einen festen Preis pro Sitzung verlangen konnte, zum Gründer der Psychologischen Mittwochsgesellschaft, einer Art Kirche der Psychoanalyse. Er gründete eine Familie und verlor seinen Vater. Er lebte einfach das Leben eines Mannes – und nicht das eines Halbgottes oder gar Gottes.
    Natürlich vernichtete Freud die Briefe von Fließ, weil sie zu kompromittierend waren. Im Winter 1907/1908 schritt er zur Tat. Übrig blieben 287 Briefe und einige theoretische Manuskripte. Über fünfhundert Seiten, auf denen man einen Freud erlebt, der missmutig, opportunistisch, neidisch, geldgierig, böse, zögerlich und von sich selbst überzeugt war, der nach Erfolg, Ruhm, Wohlstand und akademischer Anerkennung lechzte, an Zahlenmystik und Okkultismus glaubte, noch den bizarrsten Theorien seines Freundes – etwa über den Zusammenhang von Monatsblutung und Nasenbluten mit der sexuellen Ätiologie der Neurosen  – anhing und ihm alle Sorgen und Zweifel anvertraute, oder der eine Theorie (zum Beispiel der wissenschaftlichen Psychologie oder der Verführung) vertrat und dann wieder fallen ließ.
    Dieser wunderbare Blick hinter die Kulissen von Freuds Leben war fast ein Jahrhundert lang unmöglich. Die nur zur Hälfte erhaltene Korrespondenz wurde 1950 in Deutschland veröffentlicht, selbstverständlich in bereinigter Form. 1954 erschien sie in England und 1956 in Frankreich, doch besonders kompromittierende Briefe oder für Freud potentiell schädliche Passagen wurden auch hier zensiert. Die Briefausgabe war darauf zugeschnitten, ein kohärentes Bild Aus den Anfängen der Psychoanalyse zu liefern – so der Titel der besagten Ausgabe. Freuds Weg zur Psychoanalyse sollte geradlinig, frei von Fehlern, Brüchen und Kehrtwenden wirken, nämlich als Weg eines einsamen Mannes, der von seinen Zeitgenossen missverstanden wurde, deren Dummheit er
ertragen musste und der aus eigener Kraft, ohne fremde Hilfe, Quellen oder Diskussionen mit Kollegen die wissenschaftliche Wahrheit entdeckte und zu einer Disziplin machte. Die fehlerhafte Ausgabe wurde in Frankreich wieder und wieder gedruckt. 1996 erschien die letzte Auflage dieses Inbegriffs der Desinformation! In Frankreich konnte man die Epistemologie dieser Disziplin erst ab 2006 (in Deutschland 1986) jenseits freudianischer Hagiographie untersuchen. Denn erst in diesem Jahr erschien eine authentische, wissenschaftliche und kritische Ausgabe des zur Hälfte erhaltenen Briefwechsels.
    Um das ganze Ausmaß der Täuschung zu erfassen, wäre eine genaue Untersuchung der hier zur Debatte stehenden Dokumente nötig. Doch das ist nicht Ziel dieses Buchs. Stattdessen soll aus dem umfangreichen Dokumentenkorpus beispielhaft eine zentrale Vorstellung isoliert werden. So wird nachvollziehbar, wie Freuds »Methode« funktioniert. Ich wähle dafür den wohl wichtigsten Theoriebaustein in Freuds Werk aus: den Ödipuskomplex, der von den Hagiographen als Grundstein der Psychoanalyse begriffen wird.
    Als Theorie trifft man auf den Ödipuskomplex erstmals 1910 in Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. Er entstand jedoch in der Praxis. Ein Brief an Fließ enthält die Details dieser unglaublichen Fiktion, und schon an der Art der Darstellung merkt man, dass hier jedes Wort zählt. Der Legende zufolge entdeckte Freud den Ödipuskomplex bei der Selbstanalyse. Ernest Jones verwandelte den banalen Akt der Selbstbeobachtung in ein »heldenhaftes« Unterfangen. Die Eroberung der Neuen Welt funktioniert demnach hauptsächlich über den Traum und dessen Deutung sowie über die kleinen Fehlleistungen der Psyche wie Lapsus, Scherzworte, das Vergessen von Namen oder Wörtern, Rechenfehler und allem anderen, was die Psychopathologie des Alltagslebens umfasst.
    Doch was erfahren wir aus den Briefen an Fließ über

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