Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
einmal …
In der Traumdeutung formulierte Freud die ersten Zeilen dieses spannenden und abwechslungsreichen Märchens. In einem Zusatz von 1919 erläuterte er: »Der hier zuerst in der Traumdeutung berührte ›Ödipuskomplex‹ hat durch weitere Studien eine ungeahnt große Bedeutung für das Verständnis der Menschheitsgeschichte und der Entwicklung von Religion und Sittlichkeit gewonnen.« ( Traummaterial und Traumquellen, Bd. II/III, S. 270, Fußnote) Obwohl es hier nicht um den Ödipuskomplex ging, sondern um die Ödipusfrage, die an dieser Stelle erstmals auftauchte. Freud gab seine Richtung bekannt: Diese seine wissenschaftliche Entdeckung bedeute eine Revolution im Verständnis der Menschheitsgeschichte, der Religion und der Sittlichkeit.
IV.
Eine große inzestuöse Leidenschaft
»Wir sehen beide aus, schade, daß Ihr uns nicht sehen könnt.«
Sigmund Freud im Urlaub mit seiner Schwägerin Minna,
Postkarte an seine Frau, 13. August 1898
( Unser Herz zeigt nach dem Süden. Reisebriefe 1895–1923, S. 109)
Freuds Leben stand im Zeichen von Ödipus. Die große inzestuöse Leidenschaft war das Rückgrat seiner Existenz. Was das Kind mit seiner Mutter erlebte, wiederholte es als Vater mit der eigenen Tochter. Sein ganzes Leben lang folgte er den Spuren des Sohns von Iokaste und Laios. Auch Hannibal und Moses, die für Freud Modellcharakter hatten, entstammten dem inzestuösen Schema. Und auch Freuds Beziehung zu Vater, Mutter, Ehefrau, Schwägerin, Lieblingstochter und seinen anderen Kindern muss man im düsteren Licht des Inzests betrachten.
Freuds Privatleben organisierte sich um die Figur des Ödipus herum; Gleiches galt für die Theoriebildung. Umgeben vom Geist der Mutter, dem Ektoplasma des Vaters, dem Schatten der Schwägerin und der Silhouette der Tochter berichtete der Möchtegern-Wissenschaftler in Totem und Tabu vom Inzest. Das Buch erzählt vom Ursprung der Menschheit durch den Mord am Vater, dem Anführer der Urhorde und Herr über die Frauen der Horde. Verführt durch die Aussicht auf sexuelle Freiheit hätten die Söhne den Vater getötet und gegessen und daraufhin, entsetzt über die eigene Tat, Mord und Inzest verboten.
Freud setzte diese Argumentation in Der Mann Moses und die monotheistische Religion fort. Hier offenbart sich ein unglaublich starker Drang des Juden Freud, Moses zu töten, den Vater
der Juden, den er zugleich zur rein historischen Figur aus Ägypten machte. Vor dem Hintergrund dieses pathologischen Drangs wird man Freuds missmutiges Buch über Thomas Woodrow Wilson mit anderen Augen sehen. Es will eine Biographie sein, doch schon die ersten Zeilen zeigen, wie »unsympathisch« ( Einleitung zu »Thomas Woodrow Wilson«, Nachtragsband, S. 686) Freud sein Gegenstand war. Der berühmte Präsident hatte nämlich einen Fehler: »Dieser Vater war die bedeutendste Figur seiner Kindheit. Im Vergleich zu ihm spielte seine Mutter eine sehr geringe Rolle.« (Freud/Bullitt, Thomas Woodrow Wilson, S. 74) Freud dachte bekanntlich genau das Gegenteil, hielt nämlich die Mutter für die wichtigste Person und den Vater für unbedeutend. So gestand er bereits in den ersten Zeilen seiner Untersuchung, »daß die Gestalt des amerikanischen Präsidenten mir von Anfang an unsympathisch war, sobald sie am Horizont des Europäers auftauchte, und daß die Abneigung sich im Laufe der Jahre immer nur steigerte, je mehr man über ihn erfuhr« (ebd.).
Verständlicherweise suchten die Exegeten, Biographen, Analysten und Interpreten die Verantwortung für dieses nach Freuds Tod erschienene – aber zu Wilsons Lebzeiten geschriebene – Machwerk bei dessen Koautor William C. Bullitt. So sprachen sie ihren Helden von jeder Schuld frei und umgingen eine Beschäftigung mit den wahren Gründen dieser mordlüsternen Anwendung der Psychoanalyse. Denn der Hass eines Sohnes, der seine Mutter liebte und auf den Vater eifersüchtig war, auf einen Sohn, der seinen Vater mehr liebte als die Mutter, wäre ein Beweis dafür gewesen, dass der Wissenschaftler Freud oft von schändlichen Beweggründen getrieben wurde.
Die große inzestuöse Leidenschaft motivierte auch den Atheismus in Die Zukunft einer Illusion. Dort legte Freud dar, dass die Figur »Gott« verständlich wird, wenn man sie als Vater begreift. Die Menschen hätten Gott erdacht, weil sie unfähig seien, mit den Fakten ihrer Existenz zu leben, etwa mit der Aussicht auf den Tod oder dem Wissen, überhaupt nur deshalb auf der Welt zu
sein.
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