Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Theoretiker der sexuellen Ätiologie der Geisteskrankheiten und der männlichen Hysterie ließ auch hier wieder seine beliebte Methode durchblicken, die eigene intellektuelle Biographie zu schönen.
Mit seinem Manuskript Entwurf einer Psychologie wollte Freud eine wissenschaftliche Psychologie skizzieren, also das Gegenteil einer literarischen Psychologie, die doch sein Werk, sein Denken und seine Vorgehensweise bestimmte. Der Text illustriert Freuds Ambivalenz (auf die ich im Kapitel »Wie man dem eigenen Körper den Rücken kehrt« noch eingehen werde) und sein langes Schwanken zwischen der Verleugnung des Körpers, dem Vergessen des Körpers oder gar der – schließlich obsiegenden – Verachtung des Körpers und der – letztlich verdrängten – Sorge um den Körper.
Denn das, was Freud in diesem Text von 1895 entwirft, und
der Gedanke aus Die endliche und die unendliche Analyse (1937), die Chemie werde die Psychoanalyse einst überflüssig machen, weisen eine große Ähnlichkeit auf. Beide überspannen das Gesamtwerk wie eine Brücke und zeigen, dass es tatsächlich einen wissenschaftlichen Freud gab, der nicht über atopische Topiken, Metaphern und Metonymien nachdachte, sondern über physische Energien, die Wirkungsweise der Nervenkräfte, neuronale Prozesse und Biologie. Obschon im gleichen Jahr verfasst wie Studien über Hysterie, ist dieser Text von 1895 weit von jenem Freud entfernt, der Handauflegen als Heilmethode für Nervenkrankheiten propagierte. In dem lange Zeit nicht zugänglichen Text geht es darum, die Verdrängung mithilfe neuronaler Vorgänge zu erklären. Natürlich wurde auch hier Freuds Neigung zur bloßen Behauptung ohne Beweise und Laborexperimente deutlich. So erklärte er einfach, es gebe drei Typen von Neuronen, markiert durch die drei griechischen Buchstaben Phi, Psi und My, nämlich jene Neuronen, die Reize empfangen, solche, die Reize übermitteln, und schließlich diejenigen, welche die Reize an das Bewusstsein weiterleiten. Diese zwar gleich strukturierten, aber doch unterschiedlichen Neuronen stünden miteinander in Beziehung, übermittelten quantitative und qualitative Informationen, regulierten Energieflüsse, wirkten beim Auf- und Abbau psychischer Spannung mit und hatten noch vielfältige andere Aufgaben. Hier scheinen die Thesen vom Vatermord und vom Ödipuskomplex in weiter Ferne, und wir entdecken stattdessen einen Freud, der begeistert eine physikalische wissenschaftliche Hypothese erprobte, auch wenn sie ihm kurze Zeit später völlig uninteressant schien und er sich über seinen vormaligen Enthusiasmus wunderte. Diese Begeisterung für die Wissenschaft sollte ihn zeitlebens begleiten, ungeachtet seiner metapsychologischen Analysen.
Natürlich wäre Freuds Text Entwurf einer Psychologie beispielsweise einem Epistemologen wie Gaston Bachelard gerade recht gekommen, illustriert er doch auf das Anschaulichste die Grenzen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis: Freud sprach von
einer Energiemenge »Q«, von psychischer Energie (Aufregung, Substituierung, Umwandlung, Entladung), welche über psychische Zustände Auskunft geben könne; er benutzte scheinbar wissenschaftliche Parameter und Formulierungen (so die drei mit griechischen Buchstaben bezeichnete Neuronen, freie und gebundene Zustände, primäre und sekundäre Prozesse, die Neigung des Nervensystems zum Kompromiss, die biologischen Regeln der Aufmerksamkeit und der Unterscheidung etc.). Trotz oder gerade wegen seines wissenschaftlichen Vokabulars bewegte er sich womöglich auf vorwissenschaftlichem, gar literarischem Terrain. Doch dieses Moment von Wissenschaftlichkeit in Freuds Denken ist gerade das Symptom seiner Ambivalenz: Freud der Philosoph hatte sich zwar für die Philosophie begeistert, war dann aber von ihr enttäuscht worden und traute ihr darüber hinaus nicht zu, ihm schnell zu Geld und Ansehen zu verhelfen, seine mit Besessenheit verfolgten Ziele. Er las Schopenhauer und Nietzsche, verdrängte aber, was er hier erfuhr. Er lehnte jedes philosophische Universalmodell ab und nahm für sich das wissenschaftlich-experimentelle Vorgehen in Anspruch, entwickelte jedoch selbst eine universelle Weltsicht. Er sah sich auf einer Ebene mit Kopernikus und Darwin, aber keineswegs mit den Autoren von Die Welt als Wille und Vorstellung oder Also sprach Zarathustra, obwohl er eher wie die Philosophen dachte als wie ein Astronom oder Naturforscher. Dieser Freud offenbarte in dem skizzenhaften Text und unter dem
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