Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Wissenschaftsphilosophen Francis Bacon; der Wissenschaftler Terence Kealey (der übrigens Biochemiker, also praktischer Wissenschaftler, ist und kein Wissenschaftshistoriker!) hat diesen Prozess folgendermaßen dargestellt:
Universität ➝ Angewandte Wissenschaft und Technik ➝ Praxis
Auf einige wenige eng begrenzte (dafür um so heftiger beworbene) Bereiche wie den Bau der Atombombe mag dieses Modell zutreffen, doch für die meisten Bereiche, die ich untersucht habe, scheint das genaue Gegenteil zu gelten. Oder zumindest kann niemand gewährleisten, dass das Modell richtig ist – vor allem aber haben wir schockierenderweise keinen zwingenden Beleg für seine Richtigkeit. Es kann sein, dass die Universität für Wissenschaft und Technologie eine hilfreiche Rolle spielt und dass Wissenschaft und Technologie dann in Praxis übergehen, doch geschieht das auf nicht zielgerichteten, nicht teleologischen Wegen, wie ich später noch zeigen werde (mit anderen Worten, möglicherweise ist auch der Gedanke von zielgerichteter Forschung eine Illusion).
Kommen wir zurück zur Vogelmetapher. Stellen Sie sich folgende Begebenheit vor: Eine Gruppe würdevoller Herren (aus Harvard oder einem anderen Ort ähnlichen Rangs) bringt Vögeln das Fliegen bei. Da stehen jetzt also glatzköpfige Männer über sechzig im schwarzen Anzug, die ihrer Aufgabe in einer mit Fachbegriffen gespickten Sprache nachkommen und zusätzlich noch hier und da eine mathematische Gleichung einstreuen. Der Vogel fliegt. Welch ein schöner Erfolg! Sie eilen zurück in die Abteilung für Ornithologie und verfassen Bücher, Artikel und Meldungen, dass der Vogel ihren Anleitungen Folge geleistet hat. Eine makellose kausale Schlussfolgerung. Hinfort ist die Abteilung für Ornithologie der Universität Harvard unverzichtbar für den Vogelflug, und sie wird für ihre Leistung staatliche Forschungsmittel erhalten.
Mathematik ➝ Ornithologische Navigation, Flattertechniken ➝ (undankbare) Vögel fliegen
Dazu kommt, dass Vögel nie derartige Aufsätze und Bücher verfassen, wohl weil sie nur Vögel sind, ihre Version der Geschichte bleibt uns also verborgen. Die Hohepriester der Wissenschaft aber bringen unverdrossen ihre Version der Geschichte unters Volk, irgendwann infiltrieren sie damit auch eine neue Generation, die nichts über die Zeit vor den Harvard-Lehren weiß. Niemand zieht die Möglichkeit in Erwägung, dass Vögel vielleicht gar keinen Unterricht brauchen – und keiner fühlt sich bemüßigt, sich um die große Zahl von Vögeln zu kümmern, die ohne die Hilfe des fabelhaften akademischen Establishments fliegen.
Was ich hier skizziert habe, wirkt lächerlich, aber sobald man den Bereich wechselt, sieht es ganz anders aus. Natürlich glaubt niemand, dass Vögel fliegen lernen, weil es Ornithologen gibt – und wenn es doch jemand täte, würde es ihm schwerfallen, die Vögel davon zu überzeugen. Wenn wir allerdings »Vögel« durch »Personen« ersetzen, wird die Vorstellung, Leute würden sich dank Unterricht Fähigkeiten erwerben, plötzlich plausibel. Wie ist das möglich? Wenn es um menschliche Handlungsweisen geht, bringen wir die Dinge plötzlich durcheinander.
Die Illusion greift immer mehr um sich: Fördermaßnahmen der Regierung, Steuergelder, der anschwellende (sich selbst bedienende) Beamtenapparat in Washington – alles steht im Dienst der Aufgabe, den Vögeln zu helfen, besser zu fliegen. Schwierig wird es, wenn Fördermittel gekürzt werden – sofort erhebt sich eine Flut von Beschuldigungen, man würde die Vögel umbringen, wenn man ihnen nicht auch weiterhin beim Fliegen hilft.
Es gibt ein jiddisches Sprichwort: »Wenn der Schüler klug ist, hält das der Lehrer für sein Verdienst.« Derartige Illusionen gehen weitgehend auf Bestätigungstäuschungen zurück: Zu dem traurigen Umstand, dass Geschichte denen gehört, die über sie schreiben können (seien es die Gewinner oder die Verlierer), kommt eine zweite Verzerrung, insofern als diejenigen, die darüber schreiben können, zwar bestätigende Fakten (was funktioniert hat) anführen, aber nicht das Gesamtpanorama dessen wiedergeben, was funktioniert und was nicht funktioniert hat. Beispielsweise erwähnt die gezielte Forschung, welche Ziele mit Hilfe von Fördermitteln erreicht wurden (wie etwa die Entwicklung von AIDS -Medikamenten oder manchen modernen Designer-Medikamenten), nicht aber, wobei man gescheitert ist – man bekommt also den Eindruck, dass besser abgeschnitten
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