Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
also den Vorteil aus einer nützlichen Alternative ziehen, die dem Vorhergehenden überlegen ist; zu erkennen, dass der Wechsel vom einen zum anderen einen gewissen Gewinn bringt – nur in diesem Teil des Prozesses ist Rationalität gefragt). Die Geschichte der Technik lehrt, dass die Fähigkeit, die Option zu nutzen, die durch Antifragilität nahegelegt wird, nicht unbedingt gegeben ist: Die Dinge liegen manchmal lange auf der Hand, ohne dass wir merken, wie sie uns anstarren. Man denke nur an den zeitlichen Abstand zwischen der Erfindung des Rads und seiner Anwendung. Medizinforscher bezeichnen diese Verzögerung, die Zeit zwischen der Entdeckung im engeren Sinn und ihrer ersten Anwendung, als »translatorischen Abstand« (»translational gap«). Contopoulos-Ioannidis und ihre Kollegen haben nachgewiesen, dass sich dieser Abstand in der Moderne wegen übermäßiger Störgeräusche und akademischer Interessen eher vergrößert hat.
Der Historiker David Wootton zeigte, dass zwischen der Entdeckung der Keime und der Anerkennung des Umstands, dass Keime Krankheiten verursachen, zwei Jahrhunderte verstrichen; die Theorie, dass Keime an Zersetzungsprozessen schuld sind, führte erst dreißig Jahre später zur Einführung von Antiseptika; und zwischen der Einführung von Antiseptika und medikamentösen Behandlungen verstrichen noch einmal sechzig Jahre.
Es kann allerdings auch richtig schlecht laufen. In den finsteren Jahrhunderten der Medizin pflegten die Doktoren von der naiven rationalistischen Idee des Gleichgewichts der Säfte im Körper auszugehen, und man nahm an, dass Krankheit aus einem Ungleichgewicht entsteht, was zu einer Reihe von Behandlungsmethoden führte, die, so glaubte man, nötig waren, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Noga Arikha führt in ihrem Buch über Körperflüssigkeiten aus, dass man, nachdem William Harvey in den 1620er Jahren den Mechanismus des Blutkreislaufs aufgezeigt hatte, eigentlich hätte erwarten können, dass sich derartige Theorien und die damit verbundenen Behandlungsmethoden erübrigten. Und doch blieben Stimmungen und Körperflüssigkeiten beherrschende Größen in der Medizin, und es wurden ungerührt noch jahrhundertelang Phlebotomie (Aderlass), Enema (möchte ich nicht näher erläutern) und Kataplasma (das Auflegen eines feuchten Stücks Brot oder Getreidebreis auf entzündetes Gewebe) verordnet. Selbst nachdem Pasteur gezeigt hatte, dass Keime die Ursache dieser Infektionskrankheiten waren, ließ man von dieser Praxis nicht ab.
Als skeptischer Empirist vertrete ich selbstverständlich nicht die Auffassung, Widerstand gegen ein neues Verfahren sei notwendigerweise irrational: Es ist durchaus sinnvoll, eine Zeitlang abzuwarten, um zu sehen, ob das neue Verfahren sich bewährt, vor allem wenn der Verdacht besteht, dass es auf unrichtigen Voraussetzungen beruht. Um nichts anderes geht es im natürlichen Risikomanagement. Es ist allerdings komplett irrational, wenn man an einer alten Verfahrensweise festhält, die nicht nur völlig unnatürlich, sondern auch nachweislich schädlich ist, oder wenn das Umschalten auf eine neue Technologie (wie das Rad am Koffer) offensichtlich frei von Nebenwirkungen ist, was man von dem vorherigen Zustand nicht behaupten konnte. Und sich der Abschaffung als schädlich erkannter Methoden zu widersetzen, ist nichts anderes als inkompetent und kriminell (ich kann nur wieder einmal betonen, dass die Abschaffung von etwas nicht Natürlichem nicht iatrogen ist, also langfristig keine schädlichen Nebenwirkungen hat).
Mit anderen Worten: Der Widerstand gegen die Einführung derartiger Entdeckungen hat nichts mit intellektueller Glaubwürdigkeit zu tun, ich würde ihn auch nie als Beleg für irgendeine verborgene Weisheit oder für den zweckmäßigen Umgang mit Risiken sehen: Da würde man mich ganz und gar falsch verstehen. Diese Art von Widerstand gehört zur Feigheit der Fachleute, dem chronischen Fehlen von Heroismus: Kaum jemand will um einer Veränderung willen seinen Job und seinen Ruf aufs Spiel setzen.
Sinnvolles Suchen – Die Einträglichkeit von Irrtümern
Eine entscheidende wertvolle Eigenschaft des Versuch-und-Irrtum-Verfahrens wird normalerweise nicht gesehen: Es ist nicht willkürlich, sondern bedarf wegen der ihm innewohnenden Optionalität einer gewissen Rationalität. Man muss intelligent sein, um das günstige Ergebnis zu erkennen und zu wissen, was verworfen werden kann.
Und man muss rational vorgehen, damit das
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