Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Illusion weitere Nahrung gibt.
In einigen Fällen kann man nicht bis ins Letzte nachvollziehen, was passiert ist, da die Entdeckung im Zusammenhang mit militärischen Ereignissen gemacht wurde. Das gilt beispielsweise für die Chemotherapie bei Krebs, wie Meyers in seinem Buch beschreibt. Im Jahr 1942 wurde ein amerikanisches Schiff, das Senfgas an Bord hatte, vor Bari von einer deutschen Bombe getroffen. Dieses Ereignis gab den Anstoß zur Entwicklung der Chemotherapie, da das Gas sich positiv auf das Befinden von Soldaten mit Hodgkin-Lymphom auswirkte (das die weißen Blutkörperchen vernichtet). Allerdings war der Einsatz von Senfgas durch die Genfer Konvention untersagt, daher kam die Geschichte nicht an die Öffentlichkeit – Churchill ließ sämtliche Hinweise darauf aus den Berichten der britischen Regierung streichen; in den Vereinigten Staaten wurden die Informationen über das Zustandekommen zwar ebenfalls zurückgehalten, nicht aber die Erkenntnisse zur Auswirkung von Stickstofflosten.
James Le Fanu, ein Arzt und Schriftsteller, ist der Meinung, dass die therapeutische Revolution, also die Periode der Nachkriegsjahre, in der sich eine große Anzahl wirkungsvoller Therapien herausbildete, nicht von wissenschaftlichen Erkenntnissen bestimmt wurde. Sie ging auf das genaue Gegenteil zurück, nämlich »die Einsicht von Ärzten und Wissenschaftlern, dass es nicht nötig ist, detailliert zu verstehen, was nicht stimmte, sondern dass vielmehr die synthetische Chemie blind und zufällig genau die Mittel liefern würde, die Ärzten seit Jahrhunderten entgangen waren«. (Er führt als zentrales Beispiel die von Gerhard Domagk identifizierten Sulfonamide an.)
Die Erweiterung unseres theoretischen Wissens – die »epistemische Grundlage«, um mit Mokyr zu sprechen – hatte außerdem eine Reduzierung der Anzahl neuer Medikamente zur Folge. Etwas, das Fat Tony oder der Grünholz-Typ uns gleich hätten sagen können. Man könnte jetzt natürlich argumentieren, wir hätten eben die unten hängenden Früchte abgeerntet, aber ich gehe noch weiter, wobei ich mich aus anderen Bereichen (wie dem Ertrag aus dem Humangenomprojekt oder der Drosselung medizinischer Heilverfahren in den vergangenen zwanzig Jahren angesichts der wachsenden Forschungskosten) bestätigt sehe: Wissen in komplexen Bereichen (beziehungsweise das, was man gemeinhin »Wissen« nennt) behindert die Forschung.
Oder, andersherum gesagt: Wenn man die chemische Zusammensetzung von Zutaten studiert, wird man weder ein besserer Koch noch ein besserer Verkoster – womöglich wird man sogar in beidem schlechter. (Besonders für Menschen mit einem Hang zur Teleologie ist Kochen eine demütigende Erfahrung.)
Man könnte eine Liste von Medikamenten erstellen, die das Ergebnis glücklicher Zufälle à la Schwarzer Schwan sind, und sie mit einer Liste jener Medikamente vergleichen, die gezielt entwickelt wurden. Ich war schon drauf und dran, etwas Derartiges anzulegen, musste dann aber feststellen, dass die echten Ausnahmen, also Wirkstoffe, die im Rahmen eines teleologischen Verfahrens entdeckt wurden, einfach zu selten vorkommen – es handelt sich in erster Linie um AZT , also um Medikamente gegen Aids. Designermedikamente haben eine Haupteigenschaft – sie sind vorsätzlich entwickelt worden (»designed«, also teleologisch). Aber wir sind offenbar nicht imstande, ein Arzneimittel vorsätzlich zu entwickeln und dabei die potentiellen Nebenwirkungen mit zu bedenken – für die Zukunft gezielt entwickelter Medikamente ein echtes Problem. Je mehr Medikamente auf dem Markt sind, desto unüberschaubarer werden die Wechselwirkungen – mit jedem neu eingeführten Medikament wächst die Anzahl möglicher Wechselwirkungen. Wenn es zwanzig verschiedene Medikamente gibt, muss man beim einundzwanzigsten Medikament zwanzig Wechselwirkungen in Betracht ziehen; das ist natürlich kein Problem. Aber wenn es tausend Medikamente gibt, müssen wir etwas weniger als tausend Wechselwirkungen untersuchen. Gegenwärtig werden mehrere zehntausend Medikamente angeboten. Außerdem weisen Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass wir die Wechselwirkungen von angebotenen Medikamenten, also von denen, die bereits auf dem Markt sind, um den Faktor vier unterschätzen; die Zahl der angebotenen Medikamente sollte also eher zurückgehen als weiterwachsen.
Es gibt in diesem Geschäft ein offensichtliches Gefälle: Ein Medikament kann für den einen Zweck entwickelt worden sein und dann
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