Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
für ganz andere Zwecke angewendet werden, ein Phänomen, das der Wirtschaftswissenschaftler John Kay obliquity – Umweg – nennt. So veränderten sich beispielsweise wiederholt die Anwendungsbereiche von Aspirin; und die Erkenntnisse eines Judah Folkman, der postulierte, man müsse zur Behandlung von Tumoren mit Angiogenese-Hemmern arbeiten, also die Neubildung von Blutgefäßen verhindern, führten (in der Entwicklung von Bevacizumab, bekannt als Avastin) zur Behandlung von Makuladegeneration, einem effektiveren Einsatzgebiet als dem ursprünglich anvisierten.
Statt auf meineWäscheliste von Medikamenten (schlicht zu unelegant) verweise ich den Leseran dieser Stelle auf das Buch von Meyers, auf Claude Bohuon und Claude Monneret: Fabuleux hasards, histoire de la découverte des médicaments; und Jie Jack Li: Laughing Gas, Viagra and Lipitor.
Matt Ridleys anti-teleologisches Argument
Der große mittelalterliche arabische Denker Algazel (Al-Ghazali) war Philosoph und Skeptiker. Er kritisierte die teleologische Orientierung des Averroës und dessen Rationalismus und führte in diesem Zusammenhang das berühmte Beispiel der Nadel an, das heute fälschlich Adam Smith zugeschrieben wird. Die Nadel wird nicht von einem Individuum hergestellt, sondern von fünfundzwanzig Personen; sie arbeiten zusammen, ohne dass ein zentraler Lenker direkt anwesend wäre – die Zusammenarbeit wird von einer unsichtbaren Hand geleitet. Auf sich allein gestellt wäre keiner von ihnen in der Lage, die Nadel herzustellen.
Nach Auffassung Algazels, eines skeptischen Fideisten (also eines Skeptikers, der einem religiösen Glauben anhängt), liegt Wissen nicht in der Hand der Menschen, sondern in der Hand Gottes – Adam Smith setzt an die Stelle Gottes das Gesetz des Marktes, moderne Theoretiker sehen hier Selbstorganisation am Werk. Wenn sich der Leser wundert, dass Fideismus hinsichtlich des menschlichen Wissens und der Auffassung, dass die Logik der Dinge verborgen ist, erkenntnistheoretisch denselben Effekt hat wie reiner Skeptizismus, dann setze er an die Stelle Gottes die Natur, das Schicksal, das Unsichtbare, Opake und Unzugängliche, und er wird zu denselben Ergebnissen kommen. Die Logik der Dinge ist uns nicht zugänglich (sie liegt in der Hand Gottes oder der Natur oder spontaner Kräfte); und geht man davon aus, dass dieser Tage niemand in direkter Kommunikation mit Gott steht (nicht einmal in Texas), gibt es kaum einen Unterschied zwischen Gott und der Opakheit der Realität. Es existiert nicht ein einziges Individuum, das auch nur ansatzweise den großen Prozess versteht, und das ist es, worauf es eigentlich ankommt.
Der Autor Matt Ridley liefert vor dem Hintergrund seines Spezialgebiets, der Biologie, ein noch triftigeres Argument. Menschen unterscheiden sich von Tieren durch ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit, sie können sich gemeinsam für eine Sache einsetzen und ihre Ideen – entschuldigen Sie den Ausdruck – kopulieren lassen. Zusammenarbeit hat eine explosive Oberseite, der mathematische Fachausdruck lautet »superadditive Funktion«: Eins plus eins ergibt mehr als zwei, und eins plus eins plus eins ist sehr, sehr viel mehr als drei. Man hat hier Nichtlinearität – mit explosiven Vorteilen – in Reinkultur vor sich; eine Antwort auf die Frage, wie solche Verhältnisse vom Stein der Weisen profitieren, werde ich im Detail noch liefern. Natürlich ist das ein entscheidendes Argument für Unvorhersagbarkeit und Schwarzer-Schwan-Effekte: Da es nicht möglich ist, Zusammenarbeitsprozesse vorherzusagen und zu regulieren, kann man auch nicht sehen, wohin sich die Welt entwickelt. Das Einzige, was man tun kann, ist: eine Umgebung herstellen, die dieses Zusammenwirken begünstigt, und so eine Grundlage für Wohlstand schaffen. Und nein, zentralisieren kann man Innovationen nicht, das haben wir ja in Russland gesehen.
Bemerkenswerterweise – um kurz mit den Gedanken Algazels etwas tiefer in die Philosophie einzusteigen – hat Religion hier den Effekt, die Abhängigkeit von der Fehlbarkeit menschlicher Theorien und Handlungsweisen zu reduzieren, in gewisser Weise treffen sich hier also Algazel und Adam Smith. Für den einen ist die unsichtbare Hand der Markt, für den anderen ist sie Gott. Es war für die Menschen schon immer schwierig nachzuvollziehen, dass historisch gesehen der Skeptizismus überwiegend Skepsis gegenüber Expertenwissen, nicht Skepsis gegenüber abstrakten Wesenheiten wie Gott bedeutete; alle großen
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