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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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theoretisierende Theoretiker haben den Drang, Bücher zu schreiben; die Praktiker, Menschen mit einem weniger engen Verhältnis zum Schreibtisch, suchen eher den Trubel und die Aufregung, sie sind zufrieden, wenn der Rubel rollt und sie im Wirtshaus Reden schwingen können. Ihre Erfahrungen werden dann häufig von Akademikern formalisiert, und Geschichte wurde von denen geschrieben, die uns weismachen wollen, dass logisches Denken und Erörtern bei der Entstehung von Wissen die zentrale Rolle spielen.
    Am Ende dieses Kapitels soll es also um die so genannten Scharlatane gehen. Einige waren wohl tatsächlich Scharlatane, einige weniger; einige ganz und gar nicht; und es gab viele Grenzfälle. Über Jahrhunderte hinweg stand die offizielle Medizin in Konkurrenz zu marktschreierischen Quacksalbern, Kurpfuschern, Zauberern und Hexen – allen möglichen Praktikern ohne Lizenz. Einige zogen von Stadt zu Stadt und machten aus ihren Heilprozeduren großes Theater vor vielen Zuschauern. Während der Durchführung von Operationen wurden Zaubersprüche rezitiert.
    Zu dieser Kategorie gehörten auch Ärzte, die sich nicht der herrschenden griechisch-arabischen Schule rationaler Medizin zugehörig fühlten, welche in der hellenistischen Welt Kleinasiens entstanden war und später in den arabischsprachigen Ausbildungszentren weitergeführt wurde. Die Römer waren ein theoriefeindlicher, pragmatischer Haufen; die Araber dagegen liebten alles Philosophische und »Wissenschaftliche« und stellten Aristoteles, der bis dahin nirgends auf größeres Interesse gestoßen war, auf einen Sockel. Wir wissen beispielsweise nur sehr wenig von der skeptisch-empirischen Schule des Menodotos von Nikomedeia, viel mehr dagegen über den Rationalisten Galen. Medizin war für die Araber eine Wissenschaft, sie gründete auf der Logik des Aristoteles und den Methoden Galens; Erfahrung war ihnen ein Greuel. 55 Heilkundliche Praktiker – das waren die anderen.
    Die Regulierung des medizinischen Establishments ging aus ökonomischen Gründen Hand in Hand mit der Skepsis gegenüber den Empirikern, da diese Konkurrenten das Einkommen schmälerten. Es kann daher auch nicht erstaunen, dass sie mit Dieben in einem Atemzug genannt wurden, wie der folgende, außerordentlich lange Titel eines Texts aus elisabethanischer Zeit belegt: A short discourse, or, discouery of certaine stratagems, whereby our London-empericks, haue bene obserued strongly to oppugne, and oft times to expugne their poore patients purses ( Eine kurze Abhandlung, oder Aufdeckung gewisser Listen, mit denen, wie beobachtet wurde, die Empiriker hier in London die Geldbörsen ihrer armen Patienten kräftig erleichtern und häufig auch ganz plündern ).
    »Scharlatan« galt als Synonym für »Empiriker«. Das Wort »Empiriker« bezeichnete eine Person, die sich auf Experiment und Erfahrung stützte, um die Richtigkeit von Aussagen und Verfahren zu überprüfen, die also mit Versuch und Irrtum und Tüfteln arbeitete. Das aber galt als berufsmäßig, gesellschaftlich und intellektuell minderwertig. Noch heute halten wir eine solche Vorgehensweise für nicht sonderlich »intelligent«.
    Glücklicherweise genossen die Empiriker allerdings den starken Rückhalt der Bevölkerung und konnten nicht ausgerottet werden. Was sie vollbracht haben, können wir heute nicht mehr sehen, aber sie hinterließen deutliche Spuren in der Medizin.
    Bemerkenswert ist der sprunghafte Anstieg ärztlicher Kunstfehler nach der Akademisierung und Institutionalisierung der Medizin als Wissenschaft zu Beginn der Moderne. Es ist noch gar nicht so lange her, dass diese Entwicklung abgeklungen ist. Außerdem waren die studierten Ärzte, betrachtet man sie im Licht der Geschichte, auch nicht besser als die von ihnen so genannten Scharlatane – sie versteckten ihren Betrug lediglich unter dem imposanten Deckmantel überzeugenderer Rationalisierungen. Sie waren schlicht organisierte Quacksalber. Ich hoffe, das wird sich bald ändern.
    Zwar bin auch ich der Meinung, dass die meisten akademisch nicht geprüften Medizinpraktiker Halunken, Kurpfuscher, Quacksalber, häufig wohl noch Schlimmeres waren. Aber deshalb dürfen wir nicht die falschen Schlüsse ziehen. Mit dem logischen Trugschluss »Wenn es unter den Quacksalbern Leute ohne Medizinstudium gibt, sind alle Leute ohne Medizinstudium Quacksalber« haben Formalisten schon immer gearbeitet – aus dem einfachen Grund der Revierverteidigung. Und sie tun es nach wie vor: Die

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