Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Brett sitzen, keine höhere Erinnerungskapazität als der Durchschnittsbürger. Die Bereichsspezifizität von Spielen ist uns bewusst, also die Tatsache, dass man damit nichts fürs Leben lernen kann, dass vielmehr bei der Übertragung vom einen auf den anderen Bereich sehr viel verloren geht. Aber es fällt uns schwer, diese Lektion auf das Fachwissen anzuwenden, das in Schulen vermittelt wird, das heißt die entscheidende Tatsache zu akzeptieren, dass das, was im Klassenzimmer vermittelt wird, auch weitgehend im Klassenzimmer bleibt. Schlimmer noch: Im Klassenzimmer kann sogar messbarer Schaden angerichtet werden; man hat hier eine Variante schädlicher Nebenwirkungen vor sich, die kaum einmal zur Sprache gebracht wird. Laura Martignon zeigte mir Untersuchungen ihrer Doktorandin Birgit Ulmer, aus denen klar hervorgeht, dass die Fähigkeit von Kindern zu zählen , zurückgeht , wenn der Rechenunterricht beginnt. Wenn Sie Kinder fragen, wie viele Zwischenräume sich zwischen fünfzehn Zaunpfosten befinden, dann wissen diejenigen, die keinen Rechenunterricht haben, dass es vierzehn sind. Die anderen dagegen kommen durcheinander und machen oft den Fehler zu sagen, es seien fünfzehn.
Die Touristifizierung der Übermutti
Der Biologe und Intellektuelle E. O. Wilson wurde einmal gefragt, was seiner Ansicht nach die Entwicklung von Kindern am meisten behindere; seine Antwort: die Übermutti. Er arbeitete nicht mit der Vorstellung des Prokrustesbetts, beschrieb aber genau dessen Wirkungsweise. Wilson ist der Auffassung, dass Übermuttis die Liebe ihrer Kinder zum Lebendigen unterdrücken, ihre natürliche Biophilie. Aber das Problem ist genereller; Übermuttis arbeiten darauf hin, aus dem Leben ihrer Kinder das Versuch-und-Irrtum-Moment, die Antifragilität zu eliminieren, sie bewegen sie vom Ökologischen, von der realen Welt weg und verwandeln sie in Nerds, die in vorgefertigte (Übermutti-kompatible) Realitätsentwürfe passen. Ihre Kinder werden gute Schüler, aber Nerds – wie Computer, nur langsamer. Sie erwerben auch keinerlei Erfahrung im Umgang mit Ambiguität. Als Kind eines Bürgerkriegs kann ich an strukturiertes Lernen nicht glauben – ich bin fest davon überzeugt, dass man kein Nerd sein muss, um ein Intellektueller zu sein, vorausgesetzt, es steht einem eine private Bibliothek anstelle eines Klassenzimmers zur Verfügung, man verbringt seine Zeit als zielloser (dabei rationaler) Flaneur und profitiert von dem, was Zufälligkeit einem innerhalb und außerhalb der Bibliothek zu geben vermag. Wenn wir die richtige Art von Strenge mitbringen, dann brauchen wir Zufälligkeit, Unordnung, Abenteuer, Unsicherheit, Selbstentdeckung, ans Traumatische grenzende Episoden, all das, was das Leben lebenswert macht und es abhebt von dem strukturierten, gefälschten und ineffektiven Dasein eines leeren Anzugs mit vorgegebenem Stundenplan und Wecker. Selbst seine Freizeit steht unter dem Diktat der Uhr: Squash zwischen vier und fünf; das ganze Leben ist zwischen Terminen eingequetscht. Es hat den Anschein, als habe der Sinn der Moderne darin bestanden, jeden Tropfen Variabilität und Zufälligkeit aus dem Leben zu pressen – mit dem, wie ich im fünften Kapitel gezeigt habe, ironischen Ergebnis, dass die Welt sehr viel unberechenbarer geworden ist, als ob die Schicksalsgöttinnen das letzte Wort behalten wollten.
Nur Autodidakten sind frei. Und das bezieht sich nicht lediglich auf Schulthemen – frei sind diejenigen, die ihr gesamtes Leben entstandardisieren und detouristifizieren. Sport versucht, Zufälligkeit in eine Schachtel zu verpacken, ähnlich denen, die in Gang sechs neben den Thunfischdosen stehen – eine Form von Entfremdung. Um nachzuvollziehen, wie kraftlos die gängigen modernistischen Argumente sind (und noch dazu die eigenen existenziellen Prioritäten zu verstehen), führe man sich den Unterschied zwischen Löwen, die in freier Natur leben, und den Löwen im Zoo vor Augen. Löwen in Gefangenschaft leben länger; sie sind rein äußerlich betrachtet reicher, und sie genießen lebenslange Jobsicherheit; wenn das also die Kriterien sind, auf die es Ihnen ankommt …
Wie üblich hat bereits ein antiker Philosoph, in diesem Fall Seneca, das Problem (und den Unterschied) identifiziert; von ihm stammt das Sprichwort: »Wir lernen nicht für das Leben, sondern lediglich für die Schule« – non vitae, sed scolae discimus , was zu meinem großen Entsetzen verderbt und zu Eigenwerbung verdreht wurde, um als
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