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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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Ausgangspunkt gewesen war, um über diese Fragen nachzudenken. Allerdings war ich dann zu träge und zu festgefahren, um mich darüber hinaus zu wagen. Jenes Buch war (bevor ich anfing, an Antifragilität zu schreiben) mein liebstes Werk, und ich denke gern an die beiden strengen Winter in New York in der fast vollständigen Stille meiner Dachwohnung zurück, mit den Lichteffekten der Sonne, die auf den Schnee schien und nicht nur den Raum, sondern auch mein Vorhaben erwärmte. Jahrelang dachte ich an nichts anderes.
    Und ich lernte etwas Amüsantes aus dieser Zeit. Irrtümlich wurde mein Buch nicht an »Quants« (quantitative Analysten, die im Finanzwesen mit mathematischen Modellen arbeiten) geschickt, sondern an vier Gutachter, die alle in der Wissenschaft als Finanzwirtschaftler tätig waren. Die Person, die die Begutachtungsexemplare verschickte, kannte den Unterschied nicht. Die vier Akademiker verrissen mein Buch interessanterweise aus vier völlig verschiedenen Begründungszusammenhängen; es gab zwischen ihren Argumenten keinerlei Überschneidungen. Wir Praktiker und Quants lassen uns von dem, was Akademiker zu sagen haben, nicht aus der Ruhe bringen – wir kämen uns sonst vor wie Prostituierte, die auf zweckdienliche Hinweise von Nonnen hören. Hätte ich mich tatsächlich geirrt, dann hätten alle Gutachter ein und denselben Grund für ihren Verriss angeführt. Das ist wahre Antifragilität. Als der Verlag den Fehler bemerkte, wurde das Buch an Kritiker aus meiner Berufssparte geschickt und erblickte das Licht der Welt. 61
    Das Prokrustesbett im Leben besteht genau darin, das Nichtlineare zu vereinfachen, es linear zu machen – und diese Vereinfachung ist gleichbedeutend mit einer Verzerrung.
    In der Folgezeit ließ mein Interesse an der Nichtlinearität von Belastungennach, ich beschäftigte mich mit anderen Fragen rund um das Thema Ungewissheit, die ich als intellektueller und philosophischer empfand, beispielsweise mit dem Wesen des Zufalls, ohne allerdings der Frage nach der Reaktion auf zufällige Ereignisse nachzugehen. Vielleicht hing das damit zusammen, dass ich umzog und keine Dachwohnung mehr besaß.
    Doch dann brachten mich einige besondere Ereignisse dazu, eine zweite Phase der Abgeschiedenheit einzuläuten.
    Nach der Krise der Jahre 2007/2008 gab es eine Zeit, in der ich aufgrund der Kontakte mit den Medien durch die Hölle ging. Von heute auf morgen sah ich mich entintellektualisiert, korrumpiert, aus meiner Umgebung gerissen und als Produkt zur freien Verfügung der Allgemeinheit zu Markte getragen. Mir war nicht klar gewesen, dass es den Menschen in den Medien und der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln ist, dass der Job eines Gelehrten darin besteht, unbedeutende aktuelle Vorkommnisse zu ignorieren, Bücher zu schreiben und keine E-Mails, und nicht auf irgendeiner Bühne herumzuhampeln und Vorträge zu halten; er hat weiß Gott anderes zu tun: morgens im Bett zu lesen, an seinem Schreibtisch am Fenster zu schreiben, lange (langsame) Spaziergänge zu machen, Espresso zu trinken (morgens), Kamillentee (nachmittags), libanesischen Wein (abends) und Muskateller (nach dem Abendessen), noch mehr lange (langsame) Spaziergänge zu unternehmen, mit Freunden und Familienmitgliedern zu reden (aber keinesfalls morgens) und vor dem Schlafen (wieder) im Bett zu lesen – und nicht sein Buch und seine Ideen neu zu formulieren zugunsten von Fremden und Mitgliedern des Ortsverbands von Networking International, die sein Buch überhaupt nicht gelesen haben.
    Und dann stieg ich aus dem öffentlichen Leben einfach aus. Als es mir endlich gelang, die Kontrolle über meinen Tagesablauf und mein Gehirn wieder selbst zu übernehmen, als ich mich von meinen tiefen seelischen Blessuren erholt hatte, mich mit dem Gebrauch von E-Mail-Filtern und Autodelete-Funktionen vertraut gemacht und mein Leben neu gestartet hatte, schenkte mir Frau Fortuna zwei Einsichten, und ich war, wie ich zu meiner Schande entdecken musste, so töricht gewesen, nicht bemerkt zu haben, dass diese Einsichten schon die ganze Zeit in meinem Inneren geschlummert hatten.
    Es liegt auf der Hand, dass die Instrumente für die Analyse nichtlinearer Effekte universell einsetzbar sind. Der traurige Aspekt dabei ist: Ich hatte bis zu jenem Tag in meinem neu-neuen Leben als einsamer Flaneur und Kamillenteetrinker, da ich in den Anblick einer Porzellantasse versunken war, nicht bemerkt, dass einfach alles, was meine Umgebung an Nichtlinearitäten

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