Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

es gibt noch einen weiteren Effekt: Reichtum. Reichtum bedeutet, mehr zu haben, und aufgrund des nichtlinearen Anstiegs ist mehr gleich anders. Wir neigen zu schwerwiegenderen Irrtümern, einfach weil wir reicher sind. So wie Projekte mit einem Umfang von einhundert Millionen Dollar unberechenbarer und anfälliger für Budgetüberschreitungen sind als Fünf-Millionen-Dollar-Projekte, so ist auch die Welt einfach dadurch, dass sie reicher geworden ist, noch mehr Unberechenbarkeit und Fragilität ausgesetzt. Geschuldet ist es dem Wachstum, dem – auf die Ebene der einzelnen Staaten bezogen – heiß ersehnten Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Auch für den Einzelnen führt Reichtum zu mehr Kopfzerbrechen; es kann sogar im Vergleich zum Erwerb von Reichtum größere Mühe machen, die Komplikationen, die sich mit dem Reichtum einstellen, zu entschärfen.
    Zusammenfassung
    Am Ende dieses Kapitels steht die Erkenntnis, dass Fragilität in jedem Bereich, sei es bei einer Porzellantasse, in einem Organismus, in einem politischen System, bei der Größe von Firmen oder bei Verspätungen auf Flughäfen, auf Nichtlinearität beruht. Darüber hinaus kann Entdeckergeist als Antidefizit gesehen werden. Man stelle sich das exakte Gegenteil von verspäteten Landungen oder Kostenüberschreitungen vor – etwas, das von Ungewissheit profitiert. Entdeckergeist repräsentiert das Spiegelbild von fragilen, den Zufall verabscheuenden Situationen.
    62 Es gibt faktisch zwei unterschiedliche Arten von Muskelfasern, die auf jeweils unterschiedliche Beanspruchungen verschieden asymmetrisch reagieren. Die so genannten schnell kontrahierenden Fasern, die eingesetzt werden, wenn es um das Heben schwerer Gewichte geht, sind sehr antifragil, da konvex im Verhältnis zum Gewicht. Und sie verkümmern bei abnehmender Beanspruchungsintensität.
    63 Eine differenzierende Nebenbemerkung: Die Begriffe »groß« und »klein« sind relativ in Bezug auf eine gegebene Ökologie oder Firmenstruktur. Für einen Flugzeugbauer bedeutet »klein« etwas anderes als für einen Bäcker. Wie beim Subsidiaritätsprinzip der EU bedeutet »klein« hier die kleinstmögliche Einheit für eine bestimmte Funktion oder Aufgabe, die noch mit einem gewissen Effizienzgrad agieren kann.
    64 Problematisch ist auch, dass die Nichtlinearität natürlicher Ressourcen beziehungsweise aller Güter, die einerseits knapp und andererseits lebensnotwendig sind, missverstanden wird. Wirtschaftswissenschaftler arbeiten mit dem so genannten Knappheitsgesetz, demzufolge Dinge entsprechend der Nachfrage im Wert steigen, aber sie lassen die Folgen von Nichtlinearitäten außer Acht. Ich stelle momentan zusammen mit Hélyette Geman, der Professorin, bei der ich meine Doktorarbeit verfasst habe, Untersuchungen zu einem »Konvexitätsgesetz« an, nach dem Waren, vor allem lebensnotwendige Waren, teurer werden, als man ursprünglich angenommen hatte.
    65 Volatilität und Ungewissheit entsprechen sich, wie wir in der Aufzählung der Chaosfamilie gesehen haben. Demzufolge ist festzuhalten, dass Fragilität durch eine Zunahme von Ungewissheit beeinträchtigt wird.

Kapitel 19
    Der Stein der Weisen und sein Gegenteil
    Die werden es Ihnen schon sagen, wenn sie hochgehen – Manchmal ist Gold eine besondere Art von Blei
    Und nun, verehrter Leser, nach der Herkulesarbeit, die es mich gekostet hat, Ihnen in den letzten Kapiteln meine Ideen zu verdeutlichen, werde ich mich jetzt zurücklehnen und die Dinge sozusagen im fachsprachlichen Jargon darstellen. Dieses Kapitel – eine Vertiefung der Ideen aus dem vorherigen Kapitel – wird also dichter sein und sollte vom aufgeklärten Leser übersprungen werden.
    Wie man herausfindet, was hochgeht
    Es gibt eine Methode, Fragilität aufzuspüren – einen umgekehrten Stein der Weisen. Sie lässt sich schön mit der Geschichte von der riesigen regierungsnahen Hypothekenfirma Fannie Mae illustrieren, einem Unternehmen, das bei seinem Zusammenbruch den amerikanischen Steuerzahlern einen Verlust in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar bescherte.
    Eines Tages im Jahr 2003 kam Alex Berenson, ein Journalist der New York Times , mit den geheimen Risikoberichten von Fannie Mae in mein Büro, die er von einem Überläufer erhalten hatte. Es handelte sich um einen Bericht, der wirklich ans Eingemachte ging, indem er die Methoden der Risikokalkulation offenlegte, wie sie sonst nur einem Insider zugänglich sind. Fannie Mae pflegte ihre Risikokalkulationen intern