Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Konvexität messbar ist, packte mich eine regelrechte Begeisterung. Diese Technik, die Schadensbeschleunigung aufzudecken, lässt sich auf alles anwenden, das mit Entscheidungsfindung unter ungewissen Umständen und Risikomanagement zusammenhängt. Im Bereich der Medizin und Technik ließen sich damit interessante Entdeckungen machen, doch am dringendsten wurde die Methode auf dem Wirtschaftssektor benötigt. Ich schlug also den Spezialisten vom Internationalen Währungsfonds als Ersatz für ihre Instrumente zur Messung des Risikos, die, wie ihnen selbst ja durchaus bewusst war, nicht funktionierten, die Einführung eines Fragilitätsmaßes vor. Die meisten, die im Risikogeschäft tätig sind, waren frustriert von der beklagenswerten (oder besser gesagt der zufälligen) Leistung ihrer Modelle, aber was ihnen auch nicht behagte, war meine bereits erwähnte Forderung: »Arbeitet überhaupt nicht mit Modellen.« Sie wollten irgendetwas in der Hand haben. Und es gab ja eine Methode, Risiken zu messen. 66
Hier kommt nun also etwas, mit dem man arbeiten kann. Die Technik, eine schlichte Heuristik namens Fragilitäts-/Antifragilitäts-Erfassungs-Heuristik, funktioniert folgendermaßen. Nehmen wir an, Sie wollen herausfinden, ob eine Stadt zu stark optimiert ist. Sie haben den Messwert, dass sich die Fahrtzeit im innerstädtischen Verkehr, wenn zehntausend Autos dazukommen, um zehn Minuten verlängert. Wenn nun allerdings noch einmal zehntausend Autos dazukommen, erhöht sich die Fahrtzeit um zusätzliche dreißig Minuten. Eine solche Beschleunigung der Zunahme der Fahrtzeit weist darauf hin, dass der Verkehr fragil ist, dass Sie zu viele Autos haben und den Verkehr reduzieren müssen, bis die Beschleunigung nur noch schwach ausgeprägt ist (um es noch einmal zu sagen: Beschleunigung ist akute Konkavität oder ein negativer Konvexitätseffekt).
Entsprechend konkav sind Staatsdefizite in Bezug auf Veränderungen der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Jede neu hinzukommende Abweichung, beispielsweise eine gestiegene Arbeitslosenquote, lässt die Defizite – vor allem, wenn die Regierung verschuldet ist – zunehmend stärker ansteigen. Auch in einem Unternehmen wirkt sich der finanzielle Leverage-Effekt aus: Man muss mehr und mehr Fremdkapital aufnehmen, um denselben Effekt zu erzielen. Genau wie bei einem Schneeballeffekt (Ponzi-Schema).
Dasselbe gilt für den operativen Leverage-Effekt bei einem fragilen Unternehmen. Sollten sich die Verkäufe um zehn Prozent erhöhen, würden die Gewinne weniger stark ansteigen, als sie sich bei einem Verkaufsrückgang um zehn Prozent verringern würden.
Das entsprach so ungefähr der Technik, die ich anwandte, um zu erklären, warum die Höchst Respektable Firma Fannie Mae sich auf dem schnurgeraden Weg in den Abgrund befand – und es war einfach, daraus eine Faustregel abzuleiten. Für den Internationalen Währungsfonds hatten wir jetzt also eine schlichte Vorgehensweise, die sich bewährt hatte. Die Methode sah einfach aus, zu einfach; die erste Reaktion von »Experten« bestand dann auch darin, dass sie sie als »trivial« einstuften (dabei handelte es sich um Leute, die erwiesenermaßen diese Risiken zuvor noch gar nicht entdeckt hatten – Akademiker und quantitative Analysten verachten alles, was sie zu schnell verstehen, und reagieren verärgert auf alles, worauf sie nicht selbst gekommen sind).
Eingedenk des wunderbaren Prinzips, dass man die Dummheit der Leute ausnutzen muss, wenn man seinen Spaß haben will, bat ich meinen Freund Raphael Douady um Hilfe bei der Ausformulierung dieser schlichten Idee, und wir arbeiteten mit äußerst unverständlichen mathematischen Ableitungen und undurchschaubaren Theoremen, die zu entschlüsseln (einen Profi) einen halben Tag Arbeit kosten würde. Raphael, Bruno Dupire und ich, wir hatten uns schon seit fast zwanzig Jahren in ständigem Austausch darüber befunden, dass alles, buchstäblich alles, was mit einem gewissen Risiko verbunden ist, aus der Sicht eines Optionsprofis mit sehr viel größerer Präzision und Klarheit beurteilt werden kann. Raphael und ich schafften es, das Verbindungsglied zwischen Fragilität, Nichtlinearität und Abneigung gegen Volatilität zu belegen. Wenn Sie nämlich etwas Einfaches auf komplizierte Weise mit komplexen Theoremen ausdrücken können, dann nehmen die Leute, selbst wenn durch Anwendung dieser komplizierten Gleichungen an Stichhaltigkeit nicht viel gewonnen ist, Ihre Idee erwiesenermaßen
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