Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
hat, etwas zu tun (einen bestimmten Arzt oder Tierarzt zu wählen, einen Gärtner oder einen Mitarbeiter zu engagieren, jemanden zu heiraten, eine Reise zu machen), dann sollte man es lassen. Das heißt nicht, dass ein Grund besser ist als zwei Gründe, aber wenn man mehr als einen Grund anführt, dann versucht man, sich selbst von etwas zu überzeugen. Klare Entscheidungen (die robust sind gegen Irrtümer) brauchen nicht mehr als einen einzigen Grund. In der französischen Armee galt die Regel, Entschuldigungen für Nichterscheinen zurückzuweisen, wenn mehr als eine Begründung (Tod der Großmutter, Grippe, Wildschweinbiss) gegeben wurde. Wenn jemand ein Buch oder eine Idee mit Hilfe von mehr als einem Argument angreift, dann wissen Sie, dass Sie das nicht ernst nehmen müssen – kein Mensch würde sagen: »Er ist ein Krimineller, er hat mehrere Menschen umgebracht, außerdem hat er keine Tischmanieren, Mundgeruch, und ist ein miserabler Autofahrer.«
Ich habe mich immer wieder nach einer Maxime gerichtet, die ich »Bergsons Rasiermesser« nenne: »Ein Philosoph sollte für nicht mehr als eine einzige Idee bekannt sein.« (Ich kann sie zwar nicht definitiv auf Bergson zurückführen, trotzdem ist die Regel ziemlich nützlich.) Der französische Essayist und Dichter Paul Valéry fragte einmal Einstein, ob er ein Notizbuch bei sich trage, um seine Ideen aufzuschreiben. Die Antwort lautete: »Ich habe nie Ideen« (will sagen: Er hatte einfach keine Fliegenschmutz-Ideen). Daraus folgt für mich die Heuristik: Wenn jemand einen langen Lebenslauf vorlegt, kann er gleich wieder gehen – während einer Konferenz luden mich Freunde ein, beim Lunch mit einem karrieresüchtigen Spitzenmann zusammenzusitzen, dessen Curriculum Vitae »leicht und locker auf zwei oder drei Leben verteilt werden könnte«; ich verzichtete dankend und gesellte mich zu den Praktikanten und Technikern. 70 Wenn ich höre, dass jemand zweiundzwanzig Ehrendoktorwürden verliehen bekommen und dreihundert Aufsätze verfasst hat, hinter denen aber nicht eine überzeugende Hauptidee steht, dann meide ich ihn wie die Pest.
69 Sie erinnern sich an den redigierwütigen Interventionisten im siebten Kapitel, der den einzigen wirklichen Fehler übersah. Das 663 Seiten lange Dokument Financial Crisis Inquiry Report, erstellt von der Financial Crisis Inquiry Commission, übersah, was ich für die Hauptursachen der Krise halte: Fragilität und die fehlende Bereitschaft, sich selbst einzubringen. Stattdessen listeten sie selbstverständlich alle erdenklichen Epiphänomene auf, die als mögliche Gründe herhalten konnten.
70 Man mag beklagen, dass der Nobelpreis all die unguten Elemente von Wettbewerb in einen so heiligen Bereich wie die Wissenschaft eingeführt hat, doch selbst er wird nicht für einen Stapel Aufsätze vergeben, sondern meistens für einen einzigen qualitativ herausragenden Beitrag.
Kapitel 20
Zeit und Fragilität
Prophezeiungen sind wie Wissen subtraktiv, nicht additiv – Der Lindy-Effekt, oder: Wie das Alte über das Neue siegt, was vor allem für Technologien gilt, was auch immer man aus Kalifornien dazu hört – Warum man von einer Karriere als Prophet tunlichst absehen sollte
Antifragilität impliziert – anders als uns unsere Intuition vermittelt –, dass das Alte dem Neuen überlegen ist, und zwar in einem weitaus größeren Maß, als man zunächst annehmen würde. Es spielt keine Rolle, wie etwas von unserem Denkapparat aufgenommen wird, wie gut oder jämmerlich es erzählt wird – die Zeit weiß mehr über seine Fragilitäten und wird es, wenn nötig, zerbrechen. Mir geht es hier um eine Krankheit unserer Zeit, die eng mit dem Interventionismus verbunden ist; es handelt sich um die Neomanie , die Fragilität begünstigt, aber heilbar ist. Man muss nur genug Geduld aufbringen.
Was fortbesteht, muss für einen (meist versteckten) Zweck gut sein, den die Zeit zwar kennt, der unseren Augen und unseren logischen Fähigkeiten allerdings verborgen ist. In diesem Kapitel werde ich die Idee der Fragilität als zentralen Motor für Zukunftsprognosen einsetzen.
Erinnern wir uns an die grundlegende Asymmetrie: Das Antifragile profitiert von Unbeständigkeit und Unordnung, das Fragile leidet darunter. Und Zeit ist eben dasselbe wie Unordnung.
Von Simonides zu Jensen
Um uns in der Umsetzung des Unterschieds zwischen Fragilität und Antifragilität zu üben, spielen wir Prophet – wobei mir bewusst ist, dass das nur dann eine gute
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