Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
Vom Netzwerk:
Jahre verlängert. Formuliert man das Ganze mathematisch, dann besagt der Lindy-Effekt, dass das Nicht-Vergängliche eine Lebenserwartung hat, die sich mit jedem Tag seiner Fortexistenz erhöht.
    75 Man beachte außerdem: Der Lindy-Effekt ist invariant hinsichtlich der Technologie. Man kann eine Technologie als »Kabrio« oder allgemeiner als »Auto« definieren, man kann von einem »gebundenen Buch« oder weiter gefasst von einem »Buch« sprechen (unter Letzteres würden auch elektronische Texte fal len); die Lebenserwartung bezieht sich auf den jeweils definierten Gegenstand.
    76 Aufgrund desselben Lindy-Effekts sind Krankheiten und Zustände, von denen wir vor hundert oder mehr Jahren noch gar nicht wussten, dass es sich um Krankheiten handelt, entweder 1. Zivilisationskrankheiten, die mit den Methoden der Via Negativa heilbar sind, oder 2. überhaupt keine Krankheiten, sondern frei erfundene Zustände. Das gilt für die meisten psychologischen »Zustände« und für die abgedroschenen Begriffe, mit denen man Menschen in stumpfsinnige Kategorien einteilt: »Typ A«, »passiv-aggressiv« und so weiter.
    77 Ich hatte das Privileg, ein 500 Jahre altes Buch zu lesen – eine Erfahrung, die sich kaum von der Lektüre eines modernen Buchs unterscheidet. Vergleichen Sie diesen Grad an Robustheit mit der Lebensdauer elektronischer Dokumente: Auf einige der noch nicht einmal zehn Jahre alten Dateien meiner Manuskripte kann ich heute nicht mehr zugreifen.

Kapitel 21
    Medizin, Konvexität und Opakheit
    Was gemeinhin unter »fehlenden Beweisen« verstanden wird – Wie die Medizin Menschen erst fragiler macht und anschließend versucht, sie zu retten – Newtons Gravitationsgesetz oder Beweise?
    Die Geschichte der Medizin ist die – gut dokumentierte – Geschichte der Dialektik zwischen Handeln und Denken – und die Geschichte der Frage, wie wir unter opaken Bedingungen, also in Zusammenhängen, die wir nicht restlos durchschauen, Entscheidungen treffen können. Die Ärzte im Mittelmeerraum des Mittelalters – Maimonides, Avicenna, Ar-Ruhawi und die syrischen Ärzte wie Hunayn ibn Ishaq – waren nicht nur Ärzte, sondern auch Philosophen. Ein Arzt in der semitischen Welt des Mittelalters wurde als Al-Hakim bezeichnet, »der Weise« oder »Praktizierender der Weisheit«, ein Synonym für einen Philosophen oder Rabbi ( hkm ist die semitische Wurzel für »Weisheit«). Schon in einer früheren Epoche gab es eine unter hellenischem Einfluss stehende Gruppe von Männern, die genau in der Mitte zwischen Medizin und praktizierter Philosophie standen – der große skeptische Philosoph Sextus Empiricus war gleichzeitig Arzt und Mitglied der skeptischen empirischen Schule. Dasselbe gilt für Menodotos von Nikomedia und für den sich auf Erfahrung stützenden Vorläufer der evidenzbasierten Medizin; ich werde gleich noch auf ihn zu sprechen kommen. Für diejenigen unter uns, die ein gewisses Misstrauen gegenüber Leuten empfinden, welche nur reden, ohne zu handeln, stellen die von diesen Denkern heute noch erhaltenen Werke eine erfrischende Lektüre dar.
    Aus dem nun folgenden Kapitel ergeben sich recht simple Entscheidungsregeln und Heuristiken, natürlich im Stil der Via Negativa (durch Entfernung des Unnatürlichen): Ärztliche Methoden sollten nur dann zur Anwendung kommen, wenn der zu erwartende Nutzen für die Gesundheit sehr hoch ist (wenn beispielsweise durch einen Eingriff ein Leben gerettet werden kann) und wenn dieser Nutzen ganz klar den potentiellen Schaden übersteigt, etwa bei eindeutig indizierten chirurgischen Eingriffen oder lebensrettenden Medikamenten (Penicillin). Hier gilt dasselbe wie bei Eingriffen durch den Staat. Es handelt sich also um eine an Thales, nicht an Aristoteles angelehnte Vorgehensweise (eine Entscheidungsfindung, die sich an Ergebnissen, nicht an Wissen ausrichtet). Denn in diesen Fällen hat die Medizin positive Asymmetrien – Konvexitätseffekte –, und die Entstehung von Fragilität ist weniger wahrscheinlich. Andernfalls, also in Situationen, in denen der Nutzen einer bestimmten Medizin oder Prozedur oder einer Veränderung in den Ernährungs- oder Lebensgewohnheiten eher klein ist – beispielsweise bei Unternehmungen, die auf eine Erhöhung der Bequemlichkeit zielen –, haben wir ein großes potentielles Dummkopf-Problem (das uns folglich auf die falsche Seite der Konvexitätseffekte befördert). Tatsächlich ist eine der unbeabsichtigten positiven Nebenwirkungen der Theoreme, die

Weitere Kostenlose Bücher