Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Raphael Douady und ich in unserer Abhandlung über Techniken zur Aufdeckung von Risiken entwickelt haben (siehe Kapitel 19), ein präzises Bindeglied zwischen a) Nichtlinearität im Grad des Ausgesetztseins oder im Verhältnis Dosis-Wirkung und b) potentieller Fragilität oder Antifragilität.
Ich erweitere das Problem auf den erkenntnistheoretischen Bereich und stelle Regeln auf für das, was als Beweis gelten sollte: Ähnlich wie man ein Glas entweder als halb leer oder als halb voll ansehen kann, gibt es Situationen, in denen das Hauptaugenmerk auf das Fehlen eines Beweises gelegt werden sollte, und andere, in denen der Beweis selbst im Zentrum steht. In manchen Fällen kann man bestätigend vorgehen, in anderen nicht – es hängt von den Risiken ab. So nahm man beispielsweise früher an, Rauchen erzeuge einen (wenn auch geringen) Lustgewinn und wirke sich sogar positiv auf die Gesundheit aus (ja tatsächlich – die Menschen dachten, Rauchen sei gesund). Es dauerte Jahrzehnte, bis die Nachteile sichtbar wurden. Und wer den Nutzen des Rauchens in Frage gestellt hätte, wäre mit der naiv-akademischen, pseudo-fachkundigen Reaktionsschablone abgefertigt worden: »Haben Sie denn irgendeinen Beweis dafür, dass Rauchen schädlich ist?« (Was von ähnlicher Verblendung zeugt wie die Reaktion: »Gibt es einen Beweis dafür, dass Umweltverschmutzung schädlich ist?«) Auch hier ist die Lösung ganz einfach, eine Ausweitung des Via-Negativa- Grundsatzes und Fat Tonys Regel Sei kein Dummkopf : Das Nicht-Natürliche muss seinen Nutzen beweisen, nicht das Natürliche – was auf das schon vorgestellte statistische Prinzip zurückgeht, dass die Menschen mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit Dummköpfe sind als die Natur. In einem komplexen Bereich kann nur die Zeit – ein langer Zeitraum – als Beweis fungieren.
Bei jeder Art von Entscheidung wird das Unbekannte auf einer Seite stärker ins Gewicht fallen als auf der anderen.
Die »Haben Sie einen Beweis«-Täuschung, bei der der Umstand, dass bislang kein Beweis für Schädlichkeit vorliegt, damit verwechselt wird, dass es keinen Beweis für Schädlichkeit gibt, ähnelt dem Irrtum, keinen Beweis für eine Krankheit mit einem Beweis für keine Krankheit zu verwechseln. Letztlich läuft es auf den Irrtum hinaus, das Fehlen eines Beweises mit dem Beweis für ein Fehlen zu verwechseln – ein Irrtum, der schlauen und gebildeten Leuten häufig unterläuft; man könnte den Eindruck gewinnen, aufgrund ihrer Ausbildung würden solche Menschen selbstbestätigender argumentieren und seien daher stärker gefährdet, auf einfache logische Irrtümer hereinzufallen.
Und vergessen wir nicht, dass die schlichten Attribute »schädlich« oder »nützlich« unter nichtlinearen Bedingungen versagen: Es ist alles eine Frage der Dosierung.
Streit auf der Unfallstation
Ich habe mir einmal, ob Sie es glauben oder nicht, beim Spazierengehen die Nase gebrochen. Natürlich im Dienste der Antifragilität. Ich versuchte, im Rahmen meines Antifragilitätsprogramms auf unebenen Flächen zu laufen; das ging auf eine Empfehlung von Erwan Le Corre zurück, der auf naturnahe Trainingsmethoden schwört. Es war eine fantastische Erfahrung; ich hatte das Gefühl, die Welt sei reicher, fraktaler, und wenn ich den Untergrund, auf dem ich mich bewegte, mit den glatten Oberflächen von Bürgersteigen und Bürofluren verglich, fühlten Letztere sich an wie Gefängnisse. Fatalerweise hatte ich etwas bei mir, das mit Naturnähe überhaupt nichts zu tun hat – mein Handy, das die Frechheit besaß, mitten in meinen Spaziergang hinein zu klingeln.
Auf der Unfallstation bestanden der Arzt und die Krankenschwester darauf, dass ich meine Nase »kühlen«, also einen Eisbeutel darauf legen sollte. Trotz des beträchtlichen Schmerzes kam mir damals der Gedanke, dass die Schwellung, die Mutter Natur mir da zufügte, wahrscheinlich nicht direkt auf den Sturz zurückzuführen war. Es handelte sich vielmehr um eine Reaktion meines Körpers auf die Verletzung. Mir kam es vor wie eine Beleidigung von Mutter Natur, mich über ihre vorprogrammierten Reaktionen einfach hinwegzusetzen, wenn es nicht einen guten Grund dafür gab, der mit sauberen Tests belegen konnte, dass wir Menschen das besser hinkriegten; die Beweislast liegt bei uns. Ich fragte also nuschelnd den Notarzt, ob er irgendwelche statistischen Belege für den Nutzen der Eisbehandlung habe oder ob seine Empfehlung lediglich eine naive Form von
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