Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
man kann sie also sofort auf eine Brotscheibe schmieren. Zweitens war es kostengünstiger, da synthetische Fette aus Pflanzen gewonnen werden. Und schließlich, und das war das Schlimmste, nahm man an, Transfette seien gesünder. Der Konsum von Transfetten breitete sich in der Folge überall aus – plötzlich, nach einigen Hundert Millionen Jahren, in denen tierisches Fett verzehrt worden war, fingen die Konsumenten an, sich davor (vor allem vor den so genannten gesättigten Fetten) zu fürchten, und zwar hauptsächlich aufgrund von irgendwelchen schlampig durchgeführten statistischen Darstellungen. Heute sind Transfette weitgehend verboten, da sie, wie sich herausstellte, Herzkrankheiten und Herz-Kreislauf-Probleme verursachen, also Menschen umbringen.
Ein anderes mörderisches Beispiel für diesen engstirnigen (und fragilisierenden) Dummkopf-Rationalismus ist die Geschichte von Thalidomid (dem Wirkstoff in Contergan). Es sollte die Übelkeitsattacken von schwangeren Frauen reduzieren und bewirkte, dass Kinder mit Geburtsfehlern auf die Welt kamen. Ein anderes Arzneimittel namens Diethylstilbestrol schädigte den Fötus unsichtbar und führte bei den Töchtern später zu Vaginalkrebs.
Die letzten beiden Beispiele sind insofern vielsagend, als in beiden Fällen der Nutzen zwar sofort erkennbar, dabei nicht sonderlich bedeutend war; der Schaden hingegen blieb jahrelang, über mindestens eine dreiviertel Generation, unbemerkt. Im nächsten Abschnitt geht es um die Beweislast, denn Sie können sich unschwer vorstellen, dass jemand zur Verteidigung der genannten Behandlungsmethoden einwenden würde: »Monsieur Taleb, haben Sie auch nur den geringsten Beweis für Ihre Behauptung?«
Das Muster lässt sich leicht ablesen: Da Iatrogenik eine Kosten-Nutzen-Erwägung darstellt, geht sie meistens aus einer trügerischen Situation hervor, in der die Vorteile klein und sichtbar sind, die Kosten hingegen sehr groß und erst verzögert erkennbar, also versteckt. Und selbstverständlich sind die potentiellen Kosten sehr viel höher als die kumulativen Gewinne.
Wer sich den Zusammenhang in Form eines Diagramms vor Augen führen möchte, sei auf den Anhang verwiesen, wo ich die potentiellen Risiken aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchte und Iatrogenik als Wahrscheinlichkeitsverteilung darstelle.
Zweites Prinzip der Iatrogenik (nichtlineare Reaktion)
Das zweite Prinzip der Iatrogenik: Sie ist nicht linear. Wir sollten bei fast gesunden Menschen keine Risiken eingehen; bei unmittelbar gefährdeten dagegen sehr, sehr viel mehr riskieren. 78
Warum sollte sich eine Behandlung auf die schweren Fälle konzentrieren und die leichten außer Acht lassen? An folgendem Beispiel wird die Nichtlinearität (Konvexität) deutlich. Wenn der Blutdruck nicht allzu stark erhöht ist, also nur wenig oberhalb des »Normbereichs« liegt, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass man von einem bestimmten Medikament profitiert, ungefähr 5,6 Prozent (nur eine von 18 Personen profitiert von der Behandlung). Wenn andererseits der Blutdruck als »stark erhöht« oder »gefährlich erhöht« eingestuft wird, dann beträgt die Chance, von der Behandlung zu profitieren, 26 beziehungsweise 72 Prozent (also von 4 Personen wird 1 Person beziehungsweise von 3 werden 2 Personen von der Behandlung profitieren). Die Vorteile der Behandlung verhalten sich also konvex zum Zustand des Patienten (die Vorteile vergrößern sich disproportional, beschleunigt). Dabei sollten die Nebenwirkungen für alle Kategorien konstant sein. Wenn jemand sehr krank ist, sind die Vorteile groß im Verhältnis zu den Nebenwirkungen; bei den Grenzfällen sind sie klein. Das heißt, man sollte sich auf die schweren Symptome konzentrieren und andere Situationen, in denen der Patient nicht sehr krank ist, ignorieren – ja, tatsächlich: ignorieren.
Das Argument basiert auf der Struktur bedingter Überlebenswahrscheinlichkeiten, ähnlich derjenigen, die ich angewandt habe, um zu beweisen, dass für Porzellantassen der Schaden nichtlinear sein muss. Denn Mutter Natur muss sich ja in umgekehrtem Verhältnis zur Seltenheit eines Zustands durch die Selektion getüftelt haben. Von den hundertzwanzigtausend Medikamenten, die heute erhältlich sind, kann ich kaum eines finden, das in Via-Positiva- Manier den Gesamtzustand einer gesunden Person uneingeschränkt »verbessert« (und selbst wenn jemand mir ein solches Medikament vorlegen würde, wäre ich skeptisch hinsichtlich der noch
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